Was darf KI? Eine Frage der Ethik!
- 12.11.2021
- Die spektakulären Fortschritte der letzten Jahre auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz (KI) haben den Ruf nach einer Ethik für KI-Technologie lauter werden lassen. Immer mehr können intelligente Maschinen autonom agieren. Sie erkennen Gesichter und fahren Auto, stellen medizinische Diagnosen oder führen Krieg. Es ist wahrscheinlich, dass solche Systeme folgenschwere Entscheidungen über Menschen treffen, sogar über Leben und Tod. Müssen wir die Maschinen deshalb als moralische Akteure auffassen? Müssen wir sicherstellen, dass sie sich an unseren moralischen Werten und Normen orientieren – und lässt sich KI überhaupt so programmieren? Diese Fragen drängen sich auf. Doch meine Antwort ist, dass sie einer Fehleinschätzung des Phänomens KI unterliegen. Die Fragen gehen zu sehr von jener Science-Fiction-Vision aus, dass uns KI in der Gestalt autonomer Entitäten gegenüber tritt. Doch auf 99,9 Prozent der aktuell relevanten KI-Systeme trifft das nicht zu. So werden zahlreiche gravierende Auswirkungen von KI-Technologie gar nicht zur Sprache gebracht und nicht als ethische Probleme identifiziert. Der Großteil aktueller KI findet im Kontext vernetzter Medien statt. Es handelt sich um datenbasierte KI-Systeme, die nicht als Roboter, Autos oder Drohnen in Erscheinung treten, aber schon jetzt enorme Auswirkungen auf das Leben von Milliarden Menschen haben. Diese KI-Systeme verwerten die Informationen, die wir als Nutzerinnen und Nutzer digitaler Services täglich bereitstellen. Sie lernen daraus, über uns Vorhersagen zu treffen. Sind wir arm oder reich? Welcher Religion und sexuellen Orientierung fühlen wir uns zugehörig? Leiden wir an Krankheiten, psychischen Störungen oder Suchtabhängigkeiten? Wie zuverlässig erledigen wir unsere Arbeit und wie gesund ist unsere Lebensführung? Wie ist unsere aktuelle Stimmung, unser Selbstwertgefühl? Was ist unsere politische Gesinnung, welche Informationen interessieren uns am meisten? Die meisten von uns sind von Vorhersagesystemen betroffen, ohne es zu bemerken, weil diese Systeme uns nicht materiell entgegentreten. Es zeigt sich, dass die häufigsten Auswirkungen dieser Systeme strukturelle Effekte sind: Diskriminierung, unfaire Behandlung, Rassismus und Sexismus sowie emotionale und ökonomische Ausbeutung weltweit. Wir benötigen eine Ethik der KI nicht erst dann, wenn Menschen sterben. Die meiste KI wird heute gezielt dazu hergestellt, Menschen subtil unterschiedlich zu behandeln: bei der Job-Suche, auf dem Versicherungsmarkt, bei der Polizeiarbeit, beim Zugriff auf Informationen und Ressourcen. Das bedeutet in der Praxis oft, dass KI soziale Ungleichheit verstärkt, zur gesellschaftlichen Polarisierung beiträgt und jenen wenigen Großunternehmen, die über unsere Daten verfügen, eine umfassende soziale, politische und ökonomische Manipulationsmacht verschafft. Zu den Aufgaben einer Ethik der KI gehört es in dieser Situation, darauf hinzuweisen, dass die Vorstellung von KI, die der Science Fiction entlehnt ist, von der aktuellen sozialen Realität der KI ablenkt. Es mag unbequem sein, doch als Bürgerinnen und Bürger müssen wir uns der Tatsache stellen, dass wir unabkömmliche Teile der realen KI-Systeme sind. Nur weil wir digitale Dienste täglich benutzen, haben diese KI-Systeme so eine große Macht. Anhand der Daten, die wir preisgeben, wird anderen geschadet – mittels KI. Es ist unsere ethische Pflicht, für ein breites gesellschaftliches Bewusstsein dieser Tatsache zu sorgen, um eine verantwortungsvolle Regulierung datenbasierter KI zu ermöglichen.