Werteprüfung – Hat die Europäische Union noch eine gemeinsame Zukunft?
- 22.11.2022
- Die Frage nach der Zukunft der Europäischen Union stellt sich seit einigen Jahren, in denen sie eine Krise nach der anderen bewältigen musste: die Wirtschafts- und Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, die Brexitkrise und jüngst die Covid-19 Krise. Die sogenannte Wertekrise, so möchte ich hier argumentieren, ist unter diesen Krisen für die EU die bedrohlichste. Worin besteht diese Wertekrise? Die EU versteht sich heute als Wertegemeinschaft. Gemäß Artikel 2 des Vertrags der Europäischen Union sind die Werte, auf die sich die Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Die Wertekrise besteht also darin, dass einzelne Mitgliedstaaten der EU dazu übergegangen sind, gegen diese Werte zu verstoßen – und damit meine ich nicht nur populistische Tendenzen, die sich in Europa breit machen. Tatsächlich haben wir es inzwischen mit Versuchen einiger Regierungen, wie in Ungarn und Polen, zu tun, autoritäre Herrschaft zu errichten. Wahlen dienen hier als Feigenblätter, die Machtmissbrauch, die Unterdrückung von freien Medien, freier Meinungsäußerung sowie einer unabhängigen Gerichtsbarkeit notdürftig kaschieren. Es ist in allererster Linie das Recht, das die EU zusammenhält, und dies in einer fragilen Form. Denn trotz des Vorrangs und der Verbindlichkeit von EU-Recht basiert die Durchsetzung von EU-Recht de facto auf der freiwilligen Kooperation und dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten. Warum ist diese Wertekrise in der EU besonders problematisch – und wie es die Frage andeutet – tatsächlich existentiell? Die EU ist kein Staat oder eine Föderation, aber sie ist eine Rechtsgemeinschaft. Sobald das Prinzip der Rechtstaatlichkeit in einzelnen Mitgliedstaaten zerbricht, gerät auch das Fundament der EU in Gefahr. Vermeintlich verbindliche EU Entscheidungen können zu de facto unverbindlichen Leitlinien degradieren; das gegenseitige Vertrauen in das mit EU-Recht konforme Handeln auf mitgliedstaatlicher Ebene ginge verloren – und damit der normative Kern der Europäischen Union. Wie konnte es so weit kommen, dass wir heute tatsächlich von einer existenzbedrohenden Krise der EU sprechen müssen? Auf der einen Seite haben wir die autoritären Entwicklungen in einzelnen Staaten, wie Ungarn, Polen, und einigen weiteren »Wackelkandidaten«. Auf der anderen Seite hat aber auch die EU zur eigenen Krise beigetragen: So haben viele EU-Regierungen die rechtsstaatsfeindlichen Tendenzen in Ungarn, Polen und einigen anderen Staaten verharmlost und im tagtäglichen EU-Geschäft, wo politische Allianzen geschmiedet werden, ignoriert. Ähnliches ließ sich auch im Europäischen Parlament beobachten, wo zum Beispiel Viktor Orbans Fidecz Partei in der Fraktion der Europäischen Volkspartei toleriert wurde. Zudem flossen erhebliche EU-Mittel und stützten teil - weise korrupte Regime. Zuletzt die Frage: Ist die EU noch zu retten? Ich möchte enden mit einem Plädoyer für das konsequente Nutzen der Instrumente, die im Laufe der Jahre aufgebaut wurden, wie dem Rechtsstaatsmechanismus, der in das Zurückhalten von EU Haushaltsmitteln münden kann, oder Vertragsverletzungsverfahren, ggf. mit finanziellen Sanktionen, bei konkreten Verstößen gegen EU Recht. Doch mindestens ebenso zentral wird eine ernsthafte politische Gegenwehr in den EU Organen sein. Insbesondere die Staats- und Regierungschefs agieren hier weiterhin eher zögerlich und bringen – so meine Meinung – die gemeinsame Zukunft der EU in Gefahr, indem sie zulassen, dass das eigentliche Fundament der EU, die Rechtstaatlichkeit, ausgehöhlt wird.