Christentum = Glaube und Vernunft?
- Arnulf von Scheliha
- 07.11.2008
- Alle großen Weltreligionen haben ein positives Verhältnis von Glaube und Vernunft ausgebildet. Anderenfalls hätten sie weder selbst Kultur prägend wirken könnnen, noch sich unterschiedlichen Kulturen anverwandeln können. Das Verhältnis ist allerdings in den Religionen ganz unterschiedlich gestaltet worden. Das Christentum hat in der Antike die hellenistische Bildung als wahlverwandt angesehen und sich umfangreich angeeignet. Das war die Bedingung für seine Ausbreitung in der alten Welt. Dabei wurde von den christlichen Kirchenvätern der Gedanke entwickelt, dass der christliche Glaube das natürliche Streben der menschlichen Vernunft erfüllt und vollendet. Die großen Dogmen des Christentums, die Lehre von der göttlichen Dreieinigkeit und die Lehre, das in der Person Jesu Christi göttliche und menschliche Natur ungetrennt und unvermischt beisammen sind, geben dieser Idee einen klassischen Ausdruck. Diese Idee von der Überformung der menschlichen Vernunft durch den Glauben ist bis heute die offizielle Position der römisch-katholischen Kirche und wurde von Papst Benedikt XVI. jüngst in seiner bekannten Regensburger Rede eindrucksvoll erneuert. Gegen diese Position hat das evangelische Christentum immer Skepsis bekundet. Martin Luther hat gegen die Kooperation von menschlicher Vernunft und Glaube protestiert und den Glauben als ein menschliches Existenzial angesehen, in das sich die Vernunft nicht einmischen darf. Der Glaube wird von Gott allein gnadenhaft geschenkt.Umgekehrt darf sich der Glaube nicht anmaßen, die Aufgaben der Vernunft zu übernehmen. Sie hat bei der Gestaltung der Welt ihr eigenes Recht, das freilich seine absolute Grenze am Gewissen des Einzelnen und der in ihm verbürgten Wahrheit des Glaubens findet. Die evangelische Bestimmung des Verhältnisses läuftft also auf eine Differenzierung von Glaube und Vernunft hinaus. Das bedeutet aber nicht, dass Glaube und Vernunft beziehungslos nebeneinander ständen. Vielmehr hilft der Glaube dazu, mit den Grenzen der Vernunft produktiv umzugehen. Er weiß von ihrer Fehler- und Irrtumsanfälligkeit, kennt die Schattenseiten eines Lebens, das sich allein auf die Vernunft stützen will. Der Glaube lebt aus der Hoffnung, dass unser Leben, das bei Weitem nicht immer vernünftig ist und die Vernunft gelegentlich auch missbraucht,seinen Wert bei und von Gott behält. Beide Modelle, die im Christentum nebeneinander koexistieren, geben der Vernunft Raum und begrenzen sie zugleich. Das katholische Überformungsmodell möchte der Vernunft vom Glauben her eine grundlegende Orientierung geben. Das evangelische Differenzierungsmodell begrenzt die Ansprüche der Vernunft und zielt auf die wechselseitige Anerkennung von Freiheit und Kritik. Diese Anerkennung geht so weit, dass die christliche Religion so etwas wie die Vernunft des Glaubens ausgebildet hat, deren wissenschaftliche Form wir Theologie nennen. Sie dient der vernünftigen Selbstinterpretation des Glaubens und das schließt die kritische Aufarbeitung der eigenen Glaubensgeschichte mit ihren Fehlern, Irrtümern und Rückschlägen ein. Der religiöse Fundamentalismus, der ein religionsübergreifendes Phänomen ist und mit dem wir es weltweit und in Zukunft noch verstärkt zu tun haben, lebt von einer systematischen Entdifferenzierung von Glaube und Vernunft. Er kritisiert die Folgen der Profanierung des modernen Lebens, die auf das Konto der Vernunft gebucht werden, und fordert eine Rückkehr zu den religiösen Wurzeln der jeweiligen Religion. Dabei werden einerseits die großen Traditionen vernünftiger Selbstinterpretation des Glaubens, die in den großen Weltreligionen ausgebildet wurden, zusammen mit der radikalen Vernunftkritik über Bord geworfen und ein ganz irrationaler Zugang zu den vermeintlichen Fundamenten der Religionen gebahnt. Andererseits bedienen sich die Fundamentalisten zur Rekrutierung der eigenen Anhänger, zur Durchsetzung der eigenen Ziele und bei der Etablierung organisatorischer und manchmal auch staatlicher Strukturen eben jener Rationalität, die man verworfen hat und zu bekämpfen vorgibt. Dagegen sind die klassischen Modelle der Zuordnung von Vernunft und Glaube, wie sie im Christentum, aber auch im Islam und Judentum entworfen wurden, von Haus aus fundamentalismusresistent, weil sie Glaube und Vernunft unterscheiden und die Unterschiede mit Bedacht kritisch aufeinander beziehen,ohne sie zu vereinnahmen. Daher ist es für die Zukunft wichtig, dass die Institutionen wissenschaftlicher Beschäftigung mit den Glaubenstraditionen erhalten werden und dort, wo sie für andere Religionen noch nicht oder noch nicht ausreichend etabliert sind, geschaffen werden.