Welche Zukunft haben die Nationalstaaten in einem vereinten Europa?
- Helmut Voelzkow
- 07.11.2008
- Die Vorstellung, dass sich die EU zu einem neuen Superstaat entwickelt, der die Nationalstaaten ablöst, ist irreführend. Die EU ist kein supranationales Regime, das die Nationalstaaten ersetzt. Die Vorstellung eines Nullsummenspiels, wonach die Nationalstaaten durch Souveränitätstransfers die EU in ihrer Staatlichkeit stärken und selbst verschwinden, ist falsch. Aber auch die gegenteilige Vorstellung, wonach die Nationalstaaten ihre bisherige Stellung behalten oder -falls die EU doch ein allzu munteres Eigenleben entwickelt haben sollte- durch eine "Renationalisierung" zurückgewinnen können, ist realitätsfern. Dies liegt daran, dass der Nationalstaat heute bei vielen Problemen überfordert ist. Nationale Ma?nahmen im Alleingang bieten oft keine Lösung mehr. In der Politikwissenschaft wird von "Denationalisierung" gesprochen, um deutlich zu machen, dass die nationale Politik in eine Krise geraten ist, weil sie viele gesellschaftlichen Probleme nicht mehr lösen kann. Man denke nur an den Klimawandel, die Bedrohung durch den Terrorismus oder die aktuellen Turbulenzen auf den Finanzmärkten. Alle diese Beispiele verdeutlichen, dass es eines "Regierens jenseits des Nationalstaates" bedarf, um angemessen reagieren zu können. Die EU ist ein Teil des "Regierens jenseits des Nationalstaates". Eine Besonderheit der EU besteht darin, dass sie heute weitaus mehr ist als nur ein einfaches internationales Regime. Internationale Regime lassen die Souveränität der Nationalstaaten unbeschadet. Wäre die EU nur ein internationales Regime, dann müssten wir heute kein "Demokratiedefizit" der EU beklagen, sondern nur ihre unzureichende Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit. Die EU wäre nur eingeschränkt handlungsfähig, weil sie für alle europäischen Entscheidungen der aktiven Zustimmung aller Mitgliedsländer bedürfte. Das ist heute in vielen Politikbereichen aber nicht mehr der Fall. Die europäische Politik beschänkt sich nicht mehr auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Wäre die EU nur ein internationales Regime, wäre sie aus demokratietheoretischer Sicht unbedenklich, aber auch nicht ausreichend hilfreich. Die EU ist heute mehr als nur ein internationales Regime, aber ohne die Nationalstaaten zu ersetzen. Gerade diese Zwitterstellung der EU, die sie einerseits immer noch als eine "Marionette" der Nationalstaaten und andererseits zumindest in einigen politischen Handlungsfeldern als den eigentlich wichtigen "Regisseur" nationaler Politik erscheinen lässt, macht die Klärung des Verhältnisses zwischen den Mitgliedstaaten und der EU so ungemein schwierig. In Zukunft wird sich "Staatlichkeit" noch weiter ausdifferenzieren müssen: Ein "gutes Regieren" jenseits des Nationalstaates wird aufgrund der grenzüberschreitenden Qualität der Herausforderungen, vor die sich die Nationalstaaten heute gestellt sehen, unverzichtbar. Aktuelle Probleme wie Klimawandel, Finanzmärkte, Terrorismus, soziale Sicherheit etc. werden, wenn Überhaupt, nur noch durch ein Regieren jenseits des Nationalstaates zu bewältigen sein. Aber ein solches Regieren "jenseits des Nationalstaates" kann nur unter aktiver Beteiligung der Nationalstaaten zum Erfolg führen. Ohne die Nationalstaaten wird es ein "gutes Regieren jenseits der Nationalstaaten" nicht geben können. So gesehen haben die Nationalstaaten auch und insbesondere in einem vereinten Europa ihre Zukunft.