Wie viel Unglück braucht der Mensch, um glücklich zu sein?
- Jürgen Kriz
- 13.11.2009
- Die Frage unterstellt bereits zu Recht, dass ein Zustand »immerwährenden Glücklich-Seins« völlig unrealistisch wäre. Schon die praktische Erfahrung lehrt, dass uns die äußeren Umstände des Lebens nicht immer nur glückliche Stunden bescheren können. Aus psychologischer Sicht ist allerdings bedeutsamer, dass selbst konstant glückliche Bedingungen nicht längere Zeit als solche erfahrbar wären. Die Erfahrungswelt des Menschen ist vielmehr schon von ihrer physiologischen Basis her auf die Feststellung von Unterschieden ausgerichtet. Auf allen Sinneskanälen entschwinden gleich bleibende Reizintensitäten innerhalb kurzer Zeit aus der Wahrnehmungswelt. Ein konstant auf dieselbe Stelle der Netzhaut projiziertes Bild ist bereits nach wenigen Sekunden nicht mehr wahrnehmbar. Daher machen unsere Augen auch bei subjektiv ruhendem Blick ständig kleine Bewegungen, so genannte Saccaden, was uns in der Regel gar nicht bewusst wird. Ebenso wird ein konstant dargebotener Ton schon nach kurzer Zeit nicht mehr gehört. Und analoges gilt für unsere anderen Sinne. Wir kennen dies auch aus dem Alltag: Wer in die Nähe einer Kirche mit regelmäßigem Geläute zieht, mag sich zunächst belästigt fühlen. Bereits nach einigen Tagen – spätestens nach wenigen Wochen – aber wird er das Schlagen meist gar nicht mehr wahrnehmen. Auch für das persönlich empfundene »Unglück« beziehungsweise »Glück« lässt sich sagen, dass äußere und innere Zustände und deren Bewertungen nur hinsichtlich ihrer Unterschiede für unsere Erlebenswelt bedeutsam sein können. Wie die Forschung zeigt, zu der ich selbst auch einiges beigetragen habe, schaffen unsere kognitiven Systeme in einem durchaus stürmischen Meer von Reizen eine hinreichend stabile (Er-)Lebenswelt. Der Preis für diese Stabilität ist allerdings, dass vieles aus dem Aufmerksamkeitsfokus gerät und zu einem Hintergrundphänomen wird. Selbst Umstände, die zunächst zu Glücksgefühlen führen, versinken so im Hintergrund des Alltäglichen. Nun wäre es als praktische Folgerung allerdings unsinnig, wenn jemand ab und zu gezielt »unglückliche« Situationen herbeiführt, nur damit er über die erlebbaren Veränderungen sein Glück besser genießen kann. Für Veränderungen sorgt aller Erfahrung nach schon das Leben selbst. Was man aus psychologischer Sicht allerdings tun kann, ist, die Aufmerksamkeit bewusst auch auf kleine Unterschiede zu richten. Dies ist seit langem in diversen Weisheitslehren und unterschiedlichen Kulturen als »Achtsamkeit« bekannt.Aber auch in der aktuellen psychologischen Diskussion ist »Achtsamkeit« recht in Mode – unter wissenschaftlich so wohlklingendem Namen wie Mindfulness-Based Cognitive Therapie (MBCT). Zusammengefasst: Glücklichsein ist nicht als Dauerzustand möglich. Vielmehr muss es immer wieder neu als Unterschied aktiv erfahrbar gemacht werden. Dafür aber benötigt man kein großes Unglück. Sondern es genügt die Förderung von Achtsamkeit, um auch die kleinen Freuden des Alltags als Glück genießen zu können.