Schleier und Scharia. Gehört der Islam genauso zu Deutschland wie das Christen- und Judentum?
- 12.11.2010
- »Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland« –Selten hat ein Satz in der deutschen politischen Öffentlichkeit soviel Furore gemacht, wie diese Aussage von Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010. Gehört der Islam tatsächlich genauso zu Deutschland wie das Christen- und Judentum? Zunächst einmal: Das hat Wulff gar nicht behauptet. Als Theologin bin ich gewöhnt, Aussagen im Kontext zu lesen, so wie es für die historisch-kritische Auslegung der Heiligen Schriften von Judentum, Christentum und Islam, von Thora, Bibel und Koran, selbstverständlich geworden ist. Der Bundespräsident hat gesagt: »Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei.« Mit der Teilnahme an einem ökumenischen Gottesdienst in Tarsus hat der Bundespräsident religiös-symbolisch zum Ausdruck gebracht, was historisch nicht zu bestreiten ist: Der Völkerapostel Paulus, dem die weltweite Ausbreitung des jungen christlichen Glaubens über Israel hinaus zu verdanken ist, stammt aus Tarsus. Hat Wulff mit seiner Aussage, auch der Islam gehöre inzwischen zu Deutschland, eine ähnlich unbestreitbare Position bezogen? Europa und auch Deutschland leben seit Jahrhunderten vom Diskurs der abrahamischen Religionen – der, das darf nicht verschwiegen werden, eben oft auch in Gewalt, Verfolgung, Ausgrenzung, Diskriminierung und in Kriege gemündet ist. Wer die jüdisch-christlichen Wurzeln Deutschlands zu Recht erinnert, darf den Holocaust niemals verschweigen. Wer über das Zusammenleben mit Muslimen spricht, muss die wechselvolle Geschichte des religiösen und kulturellen Dialogs kennen. Schleier und Scharia: Die Emotionen auslösenden Stichwörter sind wenig dazu angetan, sich grundlegend über die Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland zu verständigen. Kontextualisierung und Inkulturation, nämlich eine kulturelle Prägung und Entwicklung des Islam durch seine Beheimatung in Deutschland, sind längst in vollem Gange. Es gilt, fundamentalistischen Tendenzen entgegenzuwirken. Wir brauchen eine in der Bundesrepublik Deutschland beheimatete islamische Theologie, die auf akademischer Ebene Theologie treibt, die den hier lebenden Musliminnen und Muslimen Antworten auf ihre vielfältigen Fragen im Leben geben kann und die die Integration der hier lebenden Muslime positiv unterstützt und fördert. Unsere Universität leistet mit der Ausbildung von islamischen Religionslehrerinnen und -lehrern, Seelsorgerinnen und Imamen und dem Aufbau eines Zentrums für Islamstudien, dazu einen gewichtigen Beitrag.