Einstein widerlegt? Bewegen sich massenlose Neutrino-Teilchen tatsächlich schneller als Licht?
- Michael Rohlfing
- 11.11.2011
- Massebehaftete Objekte bewegen sich grundsätzlich langsamer als Licht. Das gilt auch für den großen Zoo der Elementarteilchen. Sollte ein Teilchen gar keine Masse haben (wie vermutlich Neutrinos), so wird Lichtgeschwindigkeit erreicht – aber schneller geht es nicht. Diese und andere Folgerungen aus der Einstein’schen Speziellen Relativitätstheorie gelten eigentlich durch vielfältige Experimente als gesichert. Sie werden aber seit jeher gerne immer wieder hinterfragt – sei es aus wissenschaftlichem Interesse oder aus dem Reiz heraus, die Wissenschaft mit Science Fiction überlisten zu können. Kürzlich wurden Messergebnisse bekannt, denen zufolge Neutrinos schneller fliegen als erlaubt. Sie wurden in Genf am CERN erzeugt und in der Nähe von L’Aquila (730 km entfernt) im OPERA-Detektor nachgewiesen. Bei Lichtgeschwindigkeit hätte ihre Flugzeit 0,0024 Sekunden betragen sollen – sie kamen aber angeblich 0,00000006 Sekunden früher an. Dies entspricht einer Geschwindigkeitsüberschreitung von etwa 0,02 Promill. Die Autoren der Studie haben viele mögliche Fehlerquellen untersucht, aber bisher keine gefunden. Sie stellen daher ihre Daten seit September 2011 öffentlich zur Diskussion (http://arxiv.org/abs/1109.4897). Als Erklärung für dieses unerwartete Ergebnis sind mehrere Ansätze denkbar, unter anderem die folgenden: (1) Vielleicht muss die Spezielle Relativitätstheorie erweitert werden. Schließlich sollen wissenschaftliche Theorien die Wirklichkeit lediglich beschreiben. Wenn sie modifiziert werden müssen, um neuere Befunde einzubeziehen, so ist das keine Katastrophe, sondern wissenschaftlicher Fortschritt. Die Spezielle Relativitätstheorie als »Erweiterung« des klassischen Raum-Zeit-Begriffs ist selbst ein Beispiel. (2) Vielleicht enthalten die Messdaten einen bisher nicht entdeckten systematischen Fehler, z. B. bei der Zeiterfassung. Neutrinophysik erfordert höchsten technischen Aufwand und hochkomplexe Elektronik und Datenverarbeitung. Außerdem wurde der OPERA-Detektor bei Rom wohl hauptsächlich für andere Fragestellungen zur Physik der Neutrinos entwickelt, und die Messung ihrer Geschwindigkeit könnte eher ein Nebenprodukt sein. Wird ein komplexes Gerät an der Grenze des technisch Machbaren für einen anderen Zweck verwendet, ist dies prinzipiell fehleranfällig. Daher sollte man –- bei allerhöchstem Respekt vor der OPERA-Studie – mit einem endgültigen Urteil warten, bis die Daten durch andere Messungen bestätigt oder wiederlegt werden. Das sehen die OPERA-Autoren wohl genauso.