Gehirn, Körper, Geist. Welche Grenzen hat unser Verstand?
- 23.11.2012
- Die Frage nach unseren geistigen Grenzen wird gerne auf einer recht »technischen« Ebene beantwortet, etwa wird die Verarbeitungsgeschwindigkeit des Gehirns mit Computern verglichen und die Gedächtnisleistung mit Festplattenkapazitäten. Dies sind jedoch quantitative Leistungsdaten, die die Evolution zumindest im Prinzip verbessern könnte und die möglicherweise für zukünftige künstliche intelligente Systeme keine Grenzen mehr darstellen werden. Viel interessanter sind die Grenzen prinzipieller Natur – wir teilen sie mit dem klügsten Alien und dem stärksten Computer. Auf eine davon möchte ich eingehen: den sogenannten Bias. Darunter versteht man all die Vorannahmen, die unser Gehirn machen muss, um denken zu können. Ein Beispiel: Wir messen jeweils am Sonntag die Temperatur und finden über vier Wochen 16, 18, 20, 22 Grad Celsius. Unser Bias lässt uns vermuten, dass diese Werte repräsentativ sind und es folglich in dieser Jahreszeit wärmer wird. Dabei könnte es sein, dass es nur sonntags warm ist und tatsächlich das Wochenmittel von 10 Grad auf 4 Grad Celsius abnimmt. Aber unser Bias entspricht dem, was wir normalerweise in unserer Welt beobachten. Es kann schief gehen, wenn man sich auf Annahmen verlässt. Eine bekannte Rätselfrage lautet: »Ein Auto fährt ohne Licht. Trotzdem hält es vor einem Hindernis rechtzeitig an. Wie konnte das Hindernis erkannt werden?« Auf die simple Lösung »Es ist Tag« kommen viele Menschen nicht sofort, denn der Bias unseres Denkens lässt uns aus den Worten »ohne Licht« folgern, dass es Nacht ist, obwohl dies nicht in der Aufgabe steht. Diese Folgerung ist keineswegs dumm, sondern beruht auf dem Wissen, dass es nur in der Situation »Nacht« Sinn hat, von »Licht haben« zu reden. Ohne solche Vorannahmen wäre Kommunikation unmöglich. Der Bias stellt keineswegs ein lästiges Übel dar, das ein klügerer Verstand überwinden könnte. Vielmehr muss jedes lernende System, auch ein technisches, einen Bias bilden. Ohne Generalisierungen, verallgemeinernde Annahmen und Extrapolationen, wäre Lernen nur ein geistloses Abspeichern von Daten – wir könnten aus den Zahlen 16, 18, 20, 22 Grad Celsius nichts schließen. Dies gehört zu den ersten Dingen, die Studierende in Vorlesungen über Maschinelles Lernen erfahren: Lernen ist die Bildung eines Bias, mit allen Vor- und Nachteilen. Wie kann die durch den Bias bedingte Einseitigkeit unseres Denkens überwunden werden? Indem viele Menschen mit verschiedenartigem Bias über dasselbe Problem aus unterschiedlichen Blickwinkeln nachdenken! Allerdings müssen wir in der Zukunft darauf achten, dass die vielbeschworene Vernetzung nicht einfach zu einer Vereinheitlichung der Sichtweise und damit einem gemeinsamen Bias führt – dann wäre der Vorteil dahin.