Große Hürden. Woran scheitert die Inklusion im Unterricht?
- Ulrike Graf
- 14.11.2014
- »Wer die Meinung teilt, die gegenwärtige Grundschule würde dem Anspruch, alle Kinder – behinderte und nichtbehinderte – gemeinsam zu unterrichten, nicht gerecht, der muss sich, sofern er in dieser Grundschulte tätig ist, fragen, inwieweit er selbst zum ›Versagen‹ der Institution beiträgt.« Klare Worte. Kollegenschelte? Das Zitat stammt von Dr. Karl Gebauer, geschrieben im Jahre 1984, damals Rektor der Leineberg Grundschule in Göttingen. Über 25 Jahre, bevor Deutschland die Behindertenrechtskonvention der UN in deutsches Recht überführte, hat seine Schule 20 Jahre lang kein Kind abgewiesen. Wie gelang das? Indem die Kolleginnen und Kollegen an ihrem Selbstverständnis als Lehrkraft, an ihrer Einstellung zum Kind und an Fragen der Organisation gearbeitet haben. Freiwillig und in ausdauernden Verständigungsprozessen. Diese Aufgaben sind heute durch die Inklusion vorgegeben. Das heißt, alle Lehrkräfte müssen mit auf den Weg genommen und in ihren Verunsicherungen ernst genommen werden: Was bedeutet es, sich unsicher zu fühlen, weil bisherige Handlungsroutinen nicht mehr greifen? Wie kann zum Beispiel Leistung beurteilt werden, wenn immer »verschiedenere« Kinder gemeinsam lernen? Inklusion fordert heraus, unser Menschsein zum einzigen Bezugspunkt für den Zugang zur Bildung zu machen. Inklusion stellt die Frage: Bin ich bereit, mir zu vergegenwärtigen, was uns als Menschen verbindet? – Wir alle haben Fähigkeiten und Grenzen. – Wir alle wollen gleichzeitig normal und besonders sein. – Wir alle sind autonom und gleichzeitig auf andere angewiesen. Im Prozess der Entwicklung inklusiver Strukturen erleben Lehrkräfte plötzlich, auf Hilfe angewiesen zu sein. Wo sie ihnen nicht angemessen gewährt wird, werden sie behindert. Eine Erfahrung, die sie mit ihren jetzt neuen Schülerinnen und Schülern teilen. Mit Inklusion geht ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel einher. Denn die Frage ist nicht länger, ob wir Inklusion wollen, sondern wie. Dazu muss jeder zunächst eine Antwort darauf geben, ob er an diesem zutiefst humanen Anliegen mitwirken will, dass wir alle Menschen sind und aufeinander verwiesen. Dass es um Zugehörigkeit geht, nicht um Ausschluss. Die Wege, dies strukturell umzusetzen, sind lang. Sie werden viel politisches Tauziehen um Ressourcen auslösen. Auf diese zu warten, brächte Inklusion zum Scheitern, bevor sie beginnen würde. Inklusion ringt – wie jede Demokratie – mit ihren Unvollkommenheiten. Zum Schluss soll eine junge Frau zu Wort kommen, die in Berlin aufwuchs. Vor Kurzem zog sie aus privaten Gründen nach Regensburg – eine Stadt mit einer sehr gepflegten und einheitlichen Innenstadt. Neulich sagte sie: »Am Anfang habe ich gedacht, hier kann ich nicht leben. In den Straßen sieht man keine Wohnungslosen, Junkies, Bettelnde ...« Das hat mich berührt und ermutigt. Wo ein junger Mensch von 29 Jahren, kurz vor dem zweiten Staatsexamen in Jura, die Vielfalt der Bevölkerung im öffentlichen Raum vermisst, ist es gut um den Weg der Inklusion bestellt, die vielleicht doch in unsere Köpfen beginnt und deren Grundbotschaft ist: »Du bist richtig hier.«