Balance. Was hält mich auf dem Rad?
- 14.11.2014
- Wir haben uns so daran gewöhnt, dass es uns nicht mehr auffällt, aber eigentlich ist es doch merkwürdig: Wieso fällt ein Fahrradfahrer nicht seitlich um, obwohl seine »Standfläche« nur wenige Zentimeter breit ist? Bei der Antwort sollte man zwischen zwei Ebenen unterscheiden, einer prinzipiellen und einer praktischen. Prinzipiell entscheiden drei sich ständig verändernde Größen über den Neigungswinkel des Fahrrades (gegenüber der Senkrechten) im nächsten Moment: der Neigungswinkel selbst, der Lenkeinschlag und die Geschwindigkeit. Der Neigungswinkel hat eine selbstverstärkende Tendenz: Ist er schon groß, wird er auch schnell noch größer, man fällt um. Dem wirken Lenkeinschlag und Geschwindigkeit entgegen: Lenkt man in die Richtung, in die man kippt und fährt dabei mit einer gewissen Geschwindigkeit, richtet einen die Zentrifugalkraft wieder auf. Man fährt dabei eine oft kaum merkbare Kurve. Für dieses Aufrichten ist aber die Geschwindigkeit unabdingbar, fährt man nicht, kann kein noch so starker Lenkeinschlag eine Zentrifugalkraft erzeugen und man fällt um. Im Wesentlichen bewirkt also der Fahrer das Aufrechtbleiben, indem er – meist unbewusst – zu jeder Neigung die passende Geschwindigkeit und den passenden Lenkeinschlag wählt. Ganz praktisch stellt sich aber die Frage, ob es an gängigen Fahrrädern konkrete Konstruktionsmerkmale gibt, die den Fahrer in seinem Balanceakt unterstützen? Können Fahrräder vielleicht sogar ohne Fahrer fahren? Tatsächlich kann das etliche Meter funktionieren. Am wichtigsten dafür ist der »Nachlauf«: Die Vordergabel dreht sich im »Steuerrohr«, welches immer ein wenig schräg steht. Dadurch berührt der Vorderreifen den Boden an einer Stelle, die hinter einer gedachten Verlängerung des Steuerrohrs liegt. Das führt zu folgendem Effekt: Kippt man das Fahrrad, so drückt – aus der Perspektive des Fahrrads – der Boden leicht seitlich gegen die Reifen. Und zwar von der Seite, auf die das Fahrrad geneigt ist. Da der Angriffspunkt der Kraft am Vorderrad aufgrund des Nachlaufs hinter der Drehachse der Vordergabel liegt, bewirkt diese Kraft einen Lenkeinschlag in die Richtung, in die das Fahrrad gekippt wurde. Also genau in die Richtung, in die gelenkt werden muss, damit sich das Fahrrad wieder aufrichtet. So kann sich das Fahrrad in gewissen Grenzen selbst stabilisieren. Experimente haben gezeigt, dass man Fahrräder ohne Nachlauf zwar fahren kann, dies aber erheblich schwieriger ist. Einen gewissen Einfluss hat auch der Kreiseleffekt des Vorderrades. Er bewirkt auch bei Neigung des Fahrrades einen entsprechenden Lenkeinschlag. Dieser Effekt wird aber häufig, insbesondere bei kleinen Geschwindigkeiten, überschätzt, schließlich fahren auch Falträder oder Roller, deren Reifen zu klein für einen nennenswerten Kreiseleffekt sind. Fahrrad fahren ist also eine beherrschbare Sache, ein Erwachsener braucht dabei keine weitere Unterstützung. Weder um oben zu bleiben, noch bei der Frage ob er es überhaupt tun will.