Prognosen. Warum irren sich Experten so häufig?
- 11.11.2016
- Ich möchte die aufgeworfene Frage in einer radikalisierten Fassung beantworten, nämlich: „Gibt es möglicherweise prinzipielle Schranken für die Zuverlässigkeit von Prognosen?“ – Ein vertrautes Beispiel für die Unzuverlässigkeit von Prognosen ist die Wettervorhersage. Nicht nur die Komplexität der Kausalzusammenhänge (Ursachen und Wirkungen) und die unzureichende Zahl der Messpunkte für die Gewinnung der Daten, die man für die Computersimulation des Wetterverlaufs benötigt, setzen der Zuverlässigkeit längerfristiger Wetterprognosen eine prinzipielle Grenze. Unter bestimmten Voraussetzungen können auch sehr kleine Abweichungen in den Anfangsbedingungen, die unterhalb der grundsätzlich erreichbaren Messgenauigkeit liegen, jenseits eines eng begrenzten Zeithorizonts zu stark divergierenden Wetterverläufen führen. Ein solches deterministisch-chaotisches Verhalten ist auch als „Schmetterlingseffekt“ bekannt geworden. (Der Name geht auf die Titelfrage eines Vortrags von E. N. Lorenz zurück, ob der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen könne). Dieser Effekt kann sowohl bei „natürlichen“ als auch in „sozialen“ Systemen des entsprechenden Typs beobachtet werden. Ein chaotisches Systemverhalten, bei dem sich geringfügige Schwankungen der Ausgangsbedingungen zu großen Unterschieden des Systemverlaufs aufschaukeln, tritt jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen in Erscheinung. Voraussetzung dafür ist, dass sich ein System in einer „instabilen Phase“ befindet. Ist es hingegen in einem „stabilen Gleichgewicht“, werden geringfügige Schwankungen der Ausgangsbedingungen im weiteren Verlauf soweit gedämpft, dass sie keine wesentlichen Auswirkungen haben. In welchem Maße die Entwicklung eines dynamischen Systems vorhersagbar ist, hängt insofern davon ab, ob es sich im Prognosezeitraum in einer stabilen oder instabilen Phase befindet. Bei menschlichem Handeln in sozialen Systemen wird die Anfertigung zuverlässiger Prognosen zusätzlich zum „Schmetterlingseffekt“ durch einen weiteren Umstand kompliziert. Prognosen darüber werden meist publiziert und können dadurch die Erwartungen sowie das Handeln der Akteure innerhalb des Vorhersagebereichs beeinflussen. Nehmen wir etwa das Brexit-Referendum in Großbritannien: Hier gibt es Gründe für die Annahmen, dass die Vorhersage einer Stimmenmehrheit für den Verbleib in der EU viele pro EU orientierte Bürger dazu bewogen haben dürfte, zu Hause zu bleiben. Zur Abstimmungsmehrheit für den Brexit wäre es demnach als Folge einer durch die Prognosen selbst erzeugten gegenteiligen Erwartung gekommen. Damit hätten die Vorhersagen ihre Erfüllung selbst vereitelt! – Das Gegenteil ist freilich ebenfalls möglich: Die Expertenprognose, dass eine Bank insolvent werden könnte, kann einen panikartigen Abzug dort angelegter Gelder durch die Bankkunden auslösen, der die vorhergesagte Insolvenz faktisch erst herbeiführt. Gerade in instabilen Lagen trägt die Möglichkeit solcher „Rückkopplungseffekte“ zwischen Prognosen und prognostizierten Ereignisverläufen wesentlich dazu bei, dass die Entwicklung sozialer Systeme oft kaum verlässlich vorherzusagen ist.