Gegen den Egoismus unserer Zeit. Worin liegt die Motivation für soziales, karitatives Engagement in reiner Selbstlosigkeit?
- 17.11.2017
- Eine NOZ-Leserin erlebte während der Hochphase der Fluchtzuwanderung, dass Menschen bis zum eigenen Zusammenbruch Tag und Nacht halfen. Auch heute noch engagieren sich viele. Waren zunächst vor allem junge Leute in Städten aktiv, so verschob sich das Hilfsangebot zunehmend auf Ältere im ländlichen Raum. Die idealtypische Ehrenamtliche ist heute eine Deutsch unterrichtende pensionierte Lehrerin. Anders als in gesellschaftlich unumstrittenen Feldern des Ehrenamtes wie Sport oder Musik, ist Migration polarisierend. Was also motiviert Ehrenamtliche? Erstens, die ethische Überzeugung, dass es Gründe gibt, in Deutschland aufgenommen zu werden. Zweitens, die Kompensation unzureichender staatlicher Unterstützung. Die Hälfte der aktiven Initiativen möchte keine staatlichen Mittel beantragen, um unabhängig zu bleiben. Drittens, der Wunsch, Bedingungen zu schaffen, damit die Geflüchteten dauerhaft Teil der Gesellschaft werden. Interessant ist, dass viele Ehrenamtliche nicht die Übernahme „deutscher Normen“ durch die Geflüchteten fordern, sondern anderen kulturellen Praktiken mit Neugierde begegnen. Das heißt, dass Deutschland als Migrationsgesellschaft gesehen wird. Also als eine Gesellschaft, die sich durch Migration verändert. Viertens, rund 80 Prozent der Aktiven sehen ihr Engagement als Statement gegen rechte Stimmungsmache (Karakayalı/Kleist: Umfragen zu freiwilliger Flüchtlingsarbeit). Die NOZ-Leserin fragte nach dem sozialen, karitativen Engagement. Dieses ist zweifelsohne zentral. Aber diejenigen, die bei der Stange bleiben, befassen sich zunehmend mit Ursachen und Politik: Warum bleibt der Familiennachzug für Flüchtlinge ausgesetzt? Warum sitzen Flüchtlinge in libyschen und griechischen Lagern fest? Aktuell politisieren sich vor allem die Jüngeren in den Willkommensinitiativen. Das wird in Zeiten großer Zugewinne rechter Parteien selten von außen wahrgenommen. Ein dezidiert politisches Bewusstsein lässt sich in vorherigen Wellen von Flüchtlingssolidarität sehen. In den 1960er und 1990er Jahren waren viele aktiv, weil sie auf die Diktaturen in Lateinamerika oder die Verantwortung des Globalen Nordens für Kriege hinweisen wollten. Zugleich werden in vielen Willkommensinitiativen schwierige Themen ausgeklammert. Das, was eine Gruppe verbindet oder, was eine gespaltene Kommune akzeptabel findet, ist humanitäres und unpolitisches Engagement. Das Interessante beim Engagement für Geflüchtete, vor allem im ländlichen Raum, ist Folgendes: Das Engagement ist hoch politisch, aber die Akteure weisen eine politische Motivation zurück. Serhat Karakayalı (2017) formuliert es so: „Man könnte von einer zivilgesellschaftlichen „Infrapolitik“ sprechen, nicht nur, weil sie Infrastrukturen der Versorgung errichtet, sondern weil dieser Schwerpunkt es den Akteuren erlaubt, sich unterhalb eines als politisch kodierten sozialen Raums zu bewegen bzw. sich politischen Kritiken und Einordnungen zu entziehen“ und zugleich aber ein politisches Statement gegen rechts zu setzen.