Kirchenasyl. Zuflucht zu Unrecht?
- 16.11.2018
- Als „Kirchenasyl“ bezeichnet man es, wenn Menschen, die abgeschoben werden sollen, auf kircheneigenem Gelände – manchmal sogar in der Kirche selbst – untergebracht werden. Damit will man erreichen, dass der Fall von der zuständigen staatlichen Behörde neu untersucht wird. Der Staat erzwingt meistens die Abschiebung auf kircheneigenem Boden nicht, obwohl er es dürfte. Im Gegenzug melden es die Kirchen den Behörden in aller Regel, wenn ein Fall von Kirchenasyl vorliegt. Kirchenasyle sind also zumeist öffentlich. Auch die Medien berichten über sie. Stellen sich die Kirchengemeinden damit außerhalb des geltenden Rechts? Ganz eindeutig: Ja! Ein Sonderrecht für Kirchen auf Gewährung von Asyl gibt es nicht. Warum handeln die Gemeinden so? Nach dem biblischen Bild vom barmherzigen Samariter fühlen Christinnen und Christen sich durch eine begegnende bedürftige Person zur Hilfe gerufen. Sie konkretisieren damit Jesu Gebot der Nächstenliebe. Nächstenliebe fragt nicht nach Hautfarbe, Religion oder Volkszugehörigkeit. Sie fragt auch nicht nach politischer Opportunität oder möglicherweise entgegenstehendem Recht. Nun ist Nächstenliebe aber kein Verfassungsbegriff. Religionsgemeinschaften mögen ihre eigene Ethik für vollkommener halten als das staatliche Recht. Das bindet den Staat aber in keiner Weise. Politisch wichtiger ist ein anderes Argument: In Einzelfällen, in denen der Staat vielleicht sein eigenes Recht nicht hinreichend angewandt hat, soll das Kirchenasyl Zeit verschaffen, um den Fall erneut zu prüfen. Dieses Argument ist interessant, aber fragwürdig. Für den Widerspruch gegen staatliche Entscheidungen ist bei uns der Rechtsweg vorgesehen. Zivilgesellschaftliche Akteure dürfen ihn nicht einfach unterlaufen, um den Staat auf vermeintliche Fehler hinzuweisen. Deshalb ist das Kirchenasyl rechtlich keine „Grauzone“, wie oft behauptet wird. Es ist ein Akt zivilen Ungehorsams, der auch entsprechend geahndet werden kann. Wer sich hier auf sein Gewissen beruft, muss bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Deshalb zeigen sich Kirchengemeinden manchmal nach Abschluss eines Kirchenasyls selbst an. Allerdings: Viele AbschiebeEntscheidungen wurden durch Kirchenasyl tatsächlich neu bewertet. Oft genug kommen die Behörden bei genauerem Hinsehen zu einer anderen Einschätzung als beim ersten Mal. Indem der Staat Kirchenasyle toleriert, beweist er Selbstkritik im Umgang mit seiner eigenen Fehlbarkeit. Gerade deshalb müssen die Kirchen in einer demokratischen Gesellschaft aber auch den Verdacht vermeiden, als sei das Kirchenasyl Ausdruck eines grundsätzlichen Misstrauens gegenüber dem Staat und seinem Vorgehen. Umgekehrt kann es dem Staat aber auch nicht gleichgültig sein, wenn regelmäßig der Eindruck entsteht, es würde zu hart und gnadenlos abgeschoben, obwohl die Betroffenen durchaus eine Bleibechance hätten. Deshalb: Ob der Staat Kirchenasyle toleriert, ist allein seine Sache. In meinen Augen tut er aber gut daran, die großzügige Linie weiter zu verfolgen. Die Kirchen sind zwar nicht die höheren Statthalter der Menschenwürde in Deutschland. Aber der Staat darf aus freien Stücken das Kirchenasyl dazu benutzen, sein eigenes Vorgehen zu überprüfen. Für den einzelnen Menschen hängt vielleicht ein doch noch gelingendes Leben daran. Für die Allgemeinheit ist die Bedeutung des Kirchenasyls angesichts von wenigen Hundert ‚Fällen‘ pro Jahr ohnehin eher auf der symbolischen Ebene anzusiedeln.