Selbstbild – Fremdbild. Warum lieben wir es, uns selbst zu betrügen?
- 16.11.2018
- Der Gymnasiallehrer Peter hält seinen Sohn für hochbegabt. Dessen permanent schlechte Schulleistungen sieht er als Ausdruck dafür, dass sein Sohn unterfordert ist. Die Möglichkeit, dass der Sohn auch überfordert sein könnte, zieht er nicht in Betracht. Lea ist nach einem Bewerbungsgespräch mal wieder nicht in die engere Wahl gekommen. Sie sieht ihre Talente von der Auswahlkommission nicht richtig gewürdigt. Magdalena glaubt, trotz ihres erheblichen Nikotinkonsums nicht an ein erhöhtes Risiko für Lungenkrebs. Viele Menschen sind Meister darin, sich ihre Welt „schönzureden“. Philosophen, Psychologen und Soziologen stellen sich seit Langem die Frage, wieso Selbstbetrug möglich ist und welchen Vorteil er haben könnte. Von Selbstbetrug sprechen wir, wenn Menschen sich etwas einreden, obwohl sie ahnen, dass die Fakten eher für das Gegenteil sprechen. Dabei halten wir oft für wahr, was wir uns wünschen und ignorieren, was wir nicht für wünschenswert halten. Zu Selbstbetrug gehört zudem, dass die Person ihre eigenen Lügen glaubt. Leider kann man nicht immer erkennen, ob Menschen vornehmlich sich selbst täuschen, oder ob sie bewusst andere Menschen belügen, obwohl sie wissen, dass ihre Aussagen falsch sind. USPräsident Trump verkündete in einer Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, seine Regierung habe in weniger als zwei Jahren mehr erreicht als sämtliche Regierungen zuvor. Seine Zuhörer lachten verhalten. Hat er seinen Worten etwa selbst geglaubt? Am nächsten Tag behauptete er jedenfalls, man habe ihn nicht ausgelacht, sondern mit ihm gelacht. Selbsttäuschung oder Fremdtäuschung? Selbstbetrug ist nur möglich, wenn die falsche Information wie „Ich habe verkannte Talente“ im bewussten System und die richtige Information – zum Beispiel „Ich bin den Anforderungen nicht gewachsen“ – im unbewussten System abgespeichert ist. Das bedeutet, dass Geschehnisse im Bewusstsein falsch, im Unbewussten jedoch richtig abgespeichert sind. Selbstbetrug hat zahlreiche Vorteile. So kann allein der (unrealistische) Glaube, etwas gut zu können, schon die Leistung verbessern. Das liegt unter anderem an einem besseren Selbstwertgefühl. Wer glaubt, dass er etwas schaffen kann, bleibt außerdem länger am Ball. Wer seine schlechten Leistungen schönredet und sein Risiko für Unglücke und Krankheiten unterschätzt, fühlt sich insgesamt besser als die „Realisten“ und hat ein geringeres Risiko an einer Depression zu erkranken. Wer von seinen eigenen Unwahrheiten selbst überzeugt ist, kann auch andere besser davon überzeugen. Selbstbetrug hat aber auch eine Kehrseite. Wer die Fähigkeiten seines Kindes überschätzt, obwohl es eine Lernschwäche hat, verhindert schlimmstenfalls dessen optimale Förderung. Wer nicht wahrhaben will, dass er für einen bestimmten Studiengang nicht geeignet oder interessiert ist, steckt seine Energie in eine Tätigkeit, die anderswo viel besser investiert wäre. Selbstbetrug verhindert nicht nur mögliche bessere Alternativen, er belastet auch unseren Organismus. Die Wahrheit auf Dauer zu unterdrücken beziehungsweise zu leugnen, kann zu subjektivem Stressempfinden und sogar zu einer Beeinträchtigung des Immunsystems führen. Selbstbetrug kann uns demnach zwar einerseits glücklicher, zuversichtlicher, selbstsicherer und überzeugender machen. Er kann uns aber andererseits stressen und unser Immunsystem schwächen. Vor allem kann er aber bewirken, dass wir unsere Ressourcen verschwenden.