Strategien, Akteure, Interessen. Wie klappt der Wiederaufbau Syriens?
- 15.11.2019
- Ich würde diese wichtige Frage gerne mit Überzeugung beantworten können. Stattdessen kann ich an dieser Stelle nur auf einzelne Herausforderungen und Voraussetzungen hinweisen, die aus meiner Sicht besonders wichtig sind. Die erste Herausforderung besteht im eigentlichen physischen Wiederaufbau. Rund 400 Milliarden US-Dollar beträgt der geschätzte Kostenumfang der materiellen Zerstörung durch den Bürgerkrieg in Syrien. Das gesamte staatliche Budget der syrischen Regierung belief sich 2018 auf rund zwei Prozent dieser Summe. Es besteht also kein Zweifel daran, dass Syrien und einzelne internationale Unterstützer den Wiederaufbau nicht alleine stemmen können. Westliche Staaten machen ihre Unterstützung von einem inklusiven Friedensprozess abhängig – Verhandlungen und Reformen, die alle relevanten Konfliktakteure und Bevölkerungsgruppen einbeziehen. Der Begriff „Wiederaufbau“ impliziert die Wiederherstellung eines vorherigen Zustands. Aber gerade darin besteht ein hohes Risiko. Um zu verhindern, dass internationale Hilfen dazu eingesetzt werden, die Machtbasis der Regierung erneut zu zementieren und vorherige Ungleichheiten „wiederaufzubauen“, sind inklusive Verhandlungen und der Aufbau entsprechender staatlicher Institutionen besonders wichtig. So besteht eine zweite zentrale Herausforderung darin, starke und eben auch inklusive staatliche Institutionen aufzubauen. Im Jahr 2012 hat die Weltbank geschätzt, wie lange ein „durchschnittlicher“ fragiler Staat braucht, um ein gewisses Maß an „Staatstärke“ zu erreichen. Wie lange würde beispielsweise Haiti benötigen, um den Grad der Rechtsstaatlichkeit Kenias zu erreichen? In einem optimistischen Szenario der Weltbank würde Haiti den Stand Kenias nach 46 Jahren erreichen – in einem weniger optimistischen Szenario nach mehreren Hundert Jahren. Diese sehr groben Schätzungen verdeutlichen einen wichtigen Punkt: Der Aufbau staatlicher Institutionen ist keine Frage von Jahren, sondern von Generationen. Zudem können entsprechende politische Reformen im Falle Syriens erst beginnen, wenn eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen wurde: eine neue Verfassung, die eine Teilung der politischen Macht sicherstellt. Ein zentraler Baustein solcher Arrangements sind Veto-Möglichkeiten, die es allen Bevölkerungsgruppen ermöglichen, sich effektiv vor politischer Diskriminierung und Bedrohungen zu schützen. Voraussetzung für ein solches Machtteilungsarrangement ist, dass sich das regierende Regime auch bereit erklärt, einen Teil seiner politischen Macht aufzugeben. Ein solcher Kompromiss ist derzeit nicht in Sicht. Das Regime verhandelt aus einer Position der relativen Stärke heraus. Es kontrolliert wieder mehr als 60 Prozent des syrischen Territoriums. Diese Position wiederum ist von massiver internationaler Unterstützung abhängig. Entsprechend ist auch eine tragfähige Einigung in Syrien von der Einigung zwischen mächtigen internationalen Akteuren abhängig. Im September 2019 hat Russland zum dreizehnten Mal eine UN-Resolution mit Bezug auf den Konflikt in Syrien blockiert – China zum siebten Mal. Mir geht es nicht darum zu betonen, dass einzelne Länder für die fehlende internationale Einigung verantwortlich seien. Aus ihrer jeweils eigenen Perspektive verfolgen alle Akteure legitime Interessen. Die große Herausforderung und die Voraussetzung für alle folgenden Schritte des Wiederaufbaus besteht darin, einen Kompromiss zwischen diesen Interessen zu realisieren.