Haben wir sie erfunden oder nur entdeckt?
- 15.11.2019
- Bei dieser Frage stehen sich zwei philosophische Positionen gegenüber. Die eine Seite wird repräsentiert durch den Platonismus, nach dessen Verständnis Mathematik entdeckt wird. Alle mathematischen Objekte – bisher entdeckte sowie unentdeckte – existieren außerhalb von Raum und Zeit, sind unveränderlich sowie unabhängig vom menschlichen Verstand. Mathematikerinnen und Mathematiker erschaffen daher nichts, sondern entdecken vielmehr. Dabei werden sie geleitet von ihrer mathematischen Intuition – einer Art Sinnesorgan, welches die Navigation durch die Welt der Mathematik übernimmt. Mathematische Beweise sind demnach keine menschlichen Erzeugnisse, sondern Entdeckungen transzendenter mathematischer Wahrheiten. Die Idee, dass Mathematik ein rein menschliches Produkt ist, drückt auf der anderen Seite die Theorie der ‚embodied mathematics‘ aus. Hiernach sind alle mathematischen Ideen und Konzepte durch den Menschen geschaffen und grundlegend geformt durch das kognitive System, den menschlichen Körper sowie die weltlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Der grundlegende kognitive Mechanismus für diese Erschaffung ist das metaphorische Denken, welches bei allen Menschen vorhanden ist und das Verständnis abstrakter Konzepte durch konkretere Konzepte ermöglicht. So lassen sich in diesem Sinne beispielsweise grundlegende Prinzipien von Mengenlehre, Arithmetik und Algebra darauf zurückführen, dass – in unserer Welt eine Sammlung fester Gegenstände nur innerhalb oder außerhalb eines Behälters sein kann, – wir aufgrund unserer körperlichen Beschaffenheit Bewegungen stets in eine Richtung denken, – wir uns der Zeit und der Gravitation unterordnen müssen, etc. Argumente gibt es für beide beschriebenen Positionen. Einerseits weist die Mathematik eine verblüffende Universalität, Unabhängigkeit und Passung zu Phänomenen der Welt und des Universums auf, was eher für die Entdeckung der Mathematik durch den Menschen spräche. Andererseits gibt es überzeugende Nachweise, wie sich selbst in weit fortgeschrittenen mathematischen Konzepten deutliche Linien grundlegender menschlicher Aktivitäten und konzeptueller Metaphern nachzeichnen lassen, was für eine Erschaffung der Mathematik durch den Menschen spräche. Die Beantwortung der Frage bringt wichtige Implikationen mit sich, u. a. für das Mathematiklernen. Während eine platonische Haltung den Zugang zur Mathematik für mathematisch weniger begabte Personen als exklusiv und einschüchternd erscheinen lässt, begabte Personen hingegen als „besonders“ heraushebt, basiert erfolgreiches Mathematiktreiben im Sinne der embodied mathematics auf kognitiven Alltagsmechanismen, über die jeder Mensch von Geburt an verfügt; das Potenzial, Mathematik zu verstehen, ist demnach allen Menschen gegeben und kann ausgebildet werden. In einem bestimmten Szenario könnte die tatsächliche Entstehung der Mathematik sogar existenziell für den Fortbestand der Menschheit werden: Treffen wir eines Tages auf eine hoch entwickelte außerirdische Spezies und kontaktieren diese mit mathematischen Konstanten, Sätzen und Beweisen, so bleiben zwei Möglichkeiten: Ist Mathematik tatsächlich universell, dann werden wir uns als Spezies ausweisen können, die den Umgang mit grundlegenden Ideen des Universums beherrscht; ist Mathematik jedoch menschgemacht, werden die Außerirdischen lediglich unsinniges Kauderwelsch vernehmen; hoffen wir in diesem Fall auf ihre Gutmütigkeit.