Distanz und Einmischung. Wie politisch darf man sein, wenn man forscht?
- 13.11.2020
- Vor etwas mehr als 100 Jahren hielt der berühmte Soziologe und Nationalökonom Max Weber einen Vortrag mit dem Titel „Wissenschaft als Beruf“. Darin behauptete er: Wer in der Wissenschaft tätig sein wolle, müsse Leidenschaft für den Gegenstand mitbringen und einen Kompass dafür, was wissenswert sei. Wer sich fragt, woher diese kommen sollen, wird schnell feststellen, dass Neugierde und Experimentierfreude die Voraussetzungen dafür bieten können – aber eben auch ein politischer Standpunkt oder der Wunsch, zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beizutragen. Max Weber allerdings mahnte sogleich: „Politik gehört nicht in den Hörsaal.“ Unvereinbar schien ihm die wissenschaftliche Analyse mit der praktisch-politischen Stellungnahme. Letztere bedürfe Werturteile, die in der vermeintlich objektiven und von Methoden geleiteten Wissenschaft nicht aufzufinden seien. Webers Ausführungen sind auch heute noch in der Forderung beziehungsweise Behauptung von ‚objektiver‘ Wissenschaft gültig, allerdings sind sie deswegen nicht weniger kontrovers. So lässt sich beispielsweise auf die schlichte Unmöglichkeit hinweisen, die eigene Weltanschauung könnte in allen Schritten der Forschung vor der Tür – oder aus dem Kopf – gelassen werden. In dieser Perspektive müssten Forschende vielmehr die eigenen Voraussetzungen stets transparent machen. Und ein Wissenschaftsverständnis, dass sich der Kritik verschreibt, verlangt gar noch mehr: nämlich die Welt nicht nur zu ‚interpretieren‘, sondern auch zu ‚verändern‘, wie Karl Marx einst notierte und auch heute noch im Foyer des Hauptgebäudes der Humboldt-Universität Berlin zu lesen ist. Mit anderen Worten: Wie politisch man sein darf – oder sogar sein sollte – wenn man forscht, ist selbst in der Wissenschaft umstritten. Das spannende Verhältnis von Distanz und Einmischung geht aber freilich über wissenschaftsinterne Diskurse hinaus und betrifft die Frage der gesellschaftlichen Funktion von Wissenschaft. Denn aktuell erfahren wir einmal mehr: In Krisenzeiten wie der gegenwärtigen wächst der Anspruch an die Forschung, Orientierungswissen bereitzustellen. Damit werden wissenschaftliche Erkenntnisse auch stärker zum Gegenstand gesellschaftlicher Kontroversen – beispielhaft abzulesen an der Pandemie oder dem menschengemachten Klimawandel. Die Polarisierung in diesen Debatten darf nicht dazu führen, Forschungsergebnisse aus diesen Kontroversen fernzuhalten; im Gegenteil. Es gilt wissenschaftliche Erkenntnisse dort einzubringen, um Alternativen aufzuzeigen, Diskurse zu versachlichen oder auch Handlungsnotwendigkeit mit Nachdruck anzumahnen. In diesem Sinne ‚politisch‘ zu sein, scheint mir nicht nur vertretbar, sondern gar eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe öffentlich finanzierter Wissenschaft. Gleichwohl ist Distanz angebracht, wenn die Gefahr droht, dass Wissenschaft zur bloßen Legitimationshilfe handfester Interessen oder vordefinierter Weltbilder verkommt, die keinen Raum lässt für elementare Eigenschaften des systematischen Suchens nach Wahrheit, für Zweifel und Grautöne. Diese Schlaglichter sollten uns vorsichtig stimmen, allgemeingültige Antworten auf die Ausgangsfrage zu suchen. Nicht nur, dass die Freiheit der Forschung viele Grade des ‚Politisch-Seins‘ deckt – die gesellschaftlichen und wissenschaftsinternen Maßstäbe, wo Distanz und wo Einmischung geboten ist, ändern sich auch mit dem historischen Kontext. Seien wir also wachsam, um wissenschaftliches Engagement dort zu schützen, wo wir es brauchen.