Harmonie im Hirn. Ist jeder Mensch musikalisch?
- 12.11.2021
- Das Problem beginnt bereits mit dem Terminus „Musikalität“. Zusammen mit Begriffen wie „Talent“ oder „Begabung“ gibt es viele verschiedene Auffassungen über die Definition von Musikalität. Eine pragmatische Arbeitsdefinition liefert Heiner Gembris (2014, 2018), der unter Musikalität die „allgemeine, angeborene und universelle menschliche Disposition zur Kommunikation mit gestalteten Tönen, Rhythmen und Klängen“ versteht. Musikalische Begabung hingegen beschreibt er als in unterschiedlichem Maß angeborenes Potenzial, Musik emotional zu erleben, geistig zu verstehen und zu (re-)produzieren. Dies umfasst verschiedene Bereiche, wie zum Beispiel wahrnehmungsbezogene oder sensomotorische Potenziale. Durch Unterricht beziehungsweise zielgerichtetes Lernen kann das musikalische Potenzial in musikalische Leistung, also das musikalische Talent, umgesetzt werden. Dieser Prozess wird sowohl durch Umweltfaktoren (zum Beispiel soziales Milieu) als auch durch individuelle Eigenschaften (zum Beispiel Persönlichkeitsmerkmale) beeinflusst. Der früheste standardisierte Test, in welchem zur Bestimmung der musikalischen Begabung auditive Wahrnehmungs- und Differenzierungsleistungen gemessen wurden, stammt aus dem Jahr 1919 von Carl Emil Seashore. Dabei geht es zum Beispiel darum, zu erkennen, ob sich zwei nacheinander vorgespielte melodische Tonfolgen oder Rhythmen voneinander unterschieden. Bis heute steht bei vielen Tests die Messung solcher auditiven Fähigkeiten im Zentrum, was immer wieder zu Kritik an deren Aussagekraft führte. Einen theoretisch und konzeptuell anderen Ansatz verfolgt der vor wenigen Jahren entwickelte Goldsmiths Musical Sophistication Index (Gold-MSI), der die sogenannte musikalische Erfahrenheit von Personen misst, indem in den Dimensionen „Aktiver Umgang mit Musik“, „Musikalische Wahrnehmungsfähigkeiten“, „Musikalische Ausbildung“, „Gesangsfähigkeiten“ und „Emotionen“ Selbstauskünfte erhoben und ausgewertet werden. Die in allen Tests verwendete Messung der (musikalischen) Wahrnehmungsleistung ist zudem zu unterscheiden von der bei allen Menschen gleichermaßen vorhandenen Fähigkeit, akustische Reize zu strukturieren und zu verarbeiten. Bestimmte Leistungen, Klänge (nicht) unterscheiden zu können, lassen sich durch (neuro-) physiologische Mechanismen im Ohr und im Gehirn erklären. Phänomene in diesem Bereich untersucht unter anderem die Fachdisziplin der Psychoakustik. Ein Beispiel dafür sind gerade noch wahrnehmbare Unterschiede bezüglich der Tonhöhe oder der Lautstärke akustischer Reize. Letztlich existieren jedoch auch hier ab bestimmten Schwellenwerten wieder Unterschiede zwischen verschiedenen Personengruppen, die zum Teil auf Lerneffekte zurückzuführen sind. Berücksichtigt man zudem den Einfluss unterschiedlicher Musikkulturen und immer neuer Musikformen, in deren Kontext der Musikalitäts- beziehungsweise Begabungsbegriff betrachtet werden muss, wird schnell deutlich, dass in diesem Bereich auch in Zukunft noch aufschlussreiche Erkenntnisse zu erwarten sind.