Flüchtlingspolitik – Werden Flüchtlinge aus der Ukraine bevorzugt behandelt?
- FB 03 – Erziehungs- und Kulturwissenschaften
- Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien
- 22.11.2022
- Wir haben Geflüchtete schon immer ungleich behandelt. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Einführung von »sicheren« und »unsicheren« Herkunftsländern – diese Kategorie hatte den Zweck, Zugewanderte zu selektieren: die einen sollten ein vereinfachtes Verfahren haben, die anderen ein wesentlich schwereres (und zwar bei gleicher Sachlage). Unterscheidungen gab es genau genommen schon immer – so auch im Hinblick auf die Geflüchteten aus der Ukraine: Die Bevölkerung ist sehr aufgeschlossen, die Regierung ist auch außergewöhnlich stark entgegengekommen. Dafür gibt es vernünftige Gründe und weniger vernünftige Gründe. Was könnten gute Gründe sein? Im Vergleich zu den meisten Kriegen handelt es sich hier um einen Angriffskrieg, bei dem es keine zwei Meinungen geben kann, wer angreift und wer sich verteidigt. Das ist bei Bürgerkriegen häufig nicht so einfach zu unterscheiden. Zudem ist Deutschland relativ direkt involviert, wie wir alle wissen, und wir fühlen uns indirekt angegriffen. Lebensgefährliche Flucht nach Europa: Einer der am häufigsten genannten Gründe ist ein Grenzfall, kann also je nach Kontext ein guter oder schlechter Grund sein: »Es kommen überwiegend Frauen und Kinder«. Warum ist das kein vollends überzeugender Grund? Diese Frage muss man anders stellen: Warum kommen sonst so selten Frauen und Kinder? Weil die Flucht nach Europa und Deutschland lebensgefährlich ist. Sie ist lebensgefährlich bis zum Mittelmeer, sie ist lebensgefährlich auf dem Mittelmeer. Und nach der Ankunft wäre es auch lebensgefährlich, denn auch innerhalb Europas lauern gefahren: Menschenhandel, Zwangsprostitution usw. Die Form des Grenzregimes bestimmt stärker, wer kommt, als wir glauben. Die EU-Grenzen können nur überwunden werden, wenn man gesund, körperlich und kognitiv fit ist – und wenn man zudem Geld hat. Warum sind also überwiegend Frauen und Kinder gekommen? Weil die Grenzen offen waren, der Übertritt sicher. Sie wurden sogar ab - geholt. Und die EU war sich weitgehend einig. Das ist eine bevorzugte Behandlung. Und das ist zugleich absolut richtig. Aber zur Wahrheit gehört auch: Hohe, drohnenüberwachte Zäune mit Stacheldraht können von Kindern oder Menschen mit schweren Kriegsverletzungen nicht überwunden werden. Eine weitere problematische Argumentationsfigur: »Das sind gar keine richtigen Flüchtlinge, die wollen ja wieder zurück sobald der Krieg vorbei ist«. Es gibt kaum etwas, was Kriegsflüchtlinge typischer kennzeichnet, als dass sie wieder zurückwollen, sobald der Krieg – hoffentlich bald – vorbei ist. Im Syrienkrieg haben die Menschen in Lagern an den Grenzen zu Syrien mehrere Jahre verbracht in der Hoffnung, bald wieder zurückkehren zu können. Nach mehreren Jahren Krieg und einer Verschärfung der Lage verlieren die Menschen aber die Hoffnung auf Frieden, Stabilität und Normalität in der Heimat. Der Kriegsausbruch in Syrien war im Jahr 2011, gekommen sind die Menschen ab 2014. Problematische Argumentationsfiguren: Eine andere Variante: »Das sind gar keine richtigen Flüchtlinge, das sind Europäer« oder gar »Es sind weiße, christliche Europäer«. Es mag weit verbreitet sein, dass man kulturelle und geografische Nähe implizit als Kriterium für Solidarität sieht. Aber Menschenrechte sind universell, auch das Recht auf Schutz und Asyl. Das wäre eine rassistische Form von Solidarität. Was lernen wir nun daraus? Erstens: Es kann gute und schlechte Gründe für die Ungleichbehandlung von Geflüchteten geben. Und zweitens lernen wir, dass Vieles, was wir den Menschen zuschreiben, mit unserem Grenzregime zu tun hat, also mit uns. Das könnte ein Anlass sein, über Grenzen nachzudenken. Grenzen, die ursprünglich Gefahren abwehren sollten, kontrollieren heute die Mobilität von Menschen, wobei diejenigen ausgegrenzt werden, die arm, schwach oder gering qualifiziert sind. Und für die Privilegierten ist fast jede Grenze durchlässig. Es sind gewissermaßen Wohlstandsgrenzen. Das führt zu dem tragischen, unerträglichen Zustand, dass diejenigen Menschen, deren »universelle« Menschenrechte gefährdet sind oder schon massiv verletzt werden, in der Regel immobil gemacht werden, ihnen also nicht geholfen wird, zu ihrem Recht zu kommen, oder aber sie müssen lebensbedrohliche Grenzübertritte wagen – und sind dabei häufig auf »Schleuser« angewiesen. Das ist die eigentliche Flüchtlingskrise.