Sexualkunde – Wieso ist Aufklärungsunterricht so unangenehm?
- 22.11.2022
- Die einfache Antwort auf diese Frage ist: weil es peinlich ist. Es ist peinlich, weil wir uns schämen. Und dieses Gefühl von Scham haben wir gelernt. Von klein auf. Scham ist wichtig. Sie ist ein Mechanismus, der unser Inneres mit äußerlichen also gesellschaftlichen Anforderungen, verhandelt und Öffentliches und Privates voneinander trennt. Und das hat auch was Gutes, denn so können wir unser Selbst vor etwaigen Sanktionen unserer Umwelt schützen. Scham hat also auch eine sogenannte Selbstwahrungsfunktion. Bei schulischer Sexualaufklärung wird genau dieses Verhältnis von Selbst und Umwelt, von Privatem und Öffentlichem herausgefordert. Wir haben von klein auf gelernt, dass es Aspekte des Körpers gibt, die nicht zeigbar sind. Wir teilen unseren Körper in zeigbare und nicht zeigbare Zonen auf. Wenn wir uns umschauen, sehen wir, was wir in öffentlichen Kontexten als zeigbar anerkennen und was wir von unserem Körper lieber verbergen. Während wir also von klein auf lernen, dass unser Körper gewisse Zonen hat, die man lieber nicht allen ständig zeigt, lernen wir damit ja auch, dass es bestimmte Aspekte und Themen gibt, die unseren Körper betreffen, die wir ebenfalls vor der Öffentlichkeit verbergen sollten. Sexualität oder auch Lust sind ebensolche Aspekte. Im Sexualkundeunterricht kommt der große Clash: Schule ist nämlich ein ziemlich öffentlicher Ort. Als Schüler*in agiert man immer unter Beobachtung der Mitschüler*innen und wird gleichzeitig auch von den Lehrkräften beobachtet und am Ende sogar bewertet. Und an diesem Ort soll nun plötzlich über ein Thema gesprochen werden, von dem wir doch gelernt haben, dass es ins Private gehört. Das ist schwierig, denn wir haben ja gar keine öffentlichkeitsadäquaten Worte dafür gelernt. Wir haben gar kein Handwerkszeug, um mit diesem Dilemma umzugehen. Wenn ich Sie jetzt hier bitten würde, über Vulven und Penisse zu sprechen, über Menstruation und Masturbation, würde Ihnen das an diesem Ort auch gar nicht so leichtfallen. Man könnte dem jetzt entgegen halten, die Kinder müssten ja nicht über ihre eigenen unzeigbaren Körperregionen sprechen, man könnte das auch als abstraktes Thema behandeln. Und das wird ja auch versucht: denken wir an die Arbeitsblätter mit Abbildungen von Körperteilen oder auch an anatomische Modelle aus Plastik oder Plüsch. Abstraktheit allein genügt aber nicht, um den eigenen Körperbezug auszuschalten, denn lernen hat immer mit Selbstbezug zu tun. Wir können uns beim Lernen nicht gänzlich von unserem eigenen Körper trennen. Um mit der Scham umzugehen, haben wir nun drei Möglichkeiten. Erstens: Gar nicht mehr drüber sprechen. Aus meiner Sicht keine adäquate Lösung, denn wir brauchen ja ein Wissen über Körper und Sexualität. Wie kann ich wissen, dass es sich um sexualisierte Gewalt handelt, wenn ich keine Wörter für Körperteile habe, mit denen etwas gegen meinen Willen gemacht wird? Wie soll ich verhüten, ohne zu wissen, was eigentlich möglich und was auch wichtig ist? Oder auch: Wie sollen wir eine diskriminierungsfreie, offene Gesellschaft sein, ohne gebildete und wissende Menschen, die ihre Bedürfnisse ausleben können und dürfen? Die zweite Möglichkeit wäre: möglichst früh ein normalisiertes Vokabular einzuführen, um sich selbst sprechfähig zu machen und die Peinlichkeit ein bisschen abzuschwächen. Und drittens können wir den Aspekt der Öffentlichkeit ein wenig aushebeln, indem nicht die Lehrkraft, die am Ende die Zeugnisse schreibt mit den Kids darüber spricht, sondern sexualpädagogische Fachkräfte. Denn ja, es ist peinlich, aber es ist auch okay, dass es peinlich ist, man muss nur eben damit umgehen können.