Klimarekorde – Wie kommen Insekten mit den neuen Temperaturextremen zurecht?
- 22.11.2022
- Aufgrund des Klimawandels folgt aktuell Temperaturrekord auf Temperaturrekord. Das jüngste und zugleich sehr eindrückliche Beispiel war der vergangene Oktober: Nach aktuellem Wissensstand war es wahrscheinlich der wärmste Oktober seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in Deutschland. Die Mitteltemperatur betrug 12,5 °C und lag damit 3,8 °C über dem langjährigen Mittel seit 1881. Ende Oktober wurden noch Maximaltemperaturen von über 22 °C erreicht; bei Werten von über 25 °C hätte man meteorologisch von einem Sommertag sprechen müssen. Insekten sind wechselwarme (poikilotherme) Organismen. Ihre Körpertemperatur hängt unmittelbar von der Umgebungstemperatur ab. Letztere bestimmt somit den gesamten Stoffwechsel. Die Überlebenswahrscheinlichkeit, Fortpflanzungsrate und Mobilität der Insekten nehmen folglich mit der Umgebungstemperatur zu. Insgesamt lässt sich also konstatieren: Insekten mögen’s heiß. Allerdings haben natürliche Selektionsprozesse dazu geführt, dass Insektenarten aus kühleren Regionen tendenziell eher etwas geringere Temperaturen präferieren als Insekten aus wärmeren Klimaten. Eine Insektengruppe, die wir hinsichtlich ihrer Reaktion auf den Klimawandel besonders intensiv untersucht haben, sind Heuschrecken. Gegenwärtig sind 82 Arten von Heuschrecken in Deutschland heimisch. Etwa ein Drittel der Arten (32 %, 26 Arten) profitiert von den steigenden Temperaturen und breitet sich aus. Im Gegensatz dazu konnten wir bislang nur für weniger als ein Zehntel der Arten (7 %, sechs Arten) Rückgänge feststellen. Viele, aber längst nicht alle Heuschrecken mögen’s also heiß. Reaktionen auf den Klimawandel sind vielfältig Am Beispiel der Gruppe der Beißschrecken – bis zu 2 cm große und relativ kräftige Heuschrecken – möchte ich zeigen, dass selbst sehr nah verwandte Arten ganz unterschiedlich auf den Klimawandel reagieren können. Roesels Beißschrecke (Roeseliana roeselii) ist ein sogenannter Lebensraumgeneralist; die Art kommt in einer Vielzahl verschiedener Grünlandlebensräume und Säume in unserer Landschaft vor. Die kurzflügelige Beißschrecke (Metrioptera brachyptera) ist dagegen ein Lebensraumspezialist; die Art besiedelt nur wenige, sehr spezielle Lebensräume wie z.B. Moore. Beide Arten sind normalerweise kurzflügelig und somit nicht flugfähig, was eine Ausbreitung erschwert. Berühren sich die Larven allerdings aufgrund hoher Individuendichten (Dichtestress) regelmäßig, wird bei beiden Arten ein Stresshormon ausgeschüttet. Dies führt bei vielen Individuen zur Ausbildung von Flugmuskulatur und Flügeln. Die ausgewachsenen Tiere sind also flugfähig, können sich später deutlich besser ausbreiten und durch Ortswechsel an den Klimawandel anpassen. Stress verleiht also im wahrsten Sinne des Wortes Flügel. Wie wirkt sich der Klimawandel auf unsere beiden Schwesterarten aus? Werden die Frühjahre zunehmend wärmer, führt das bei Roesels Beißschrecke zu einer geringeren Larvensterblichkeit, mehr Dichtestress und mehr flugfähigen Tieren. Da Roesels Beißschrecke als Generalistin eine Vielzahl an potenziellen Lebensräumen in unserer Landschaft zur Verfügung steht, kann sie dem Klimawandel folgen und sucht sich im Norden oder in höheren Lagen neue Lebensräume. Die Kurzflügelige Beißschrecke hingegen weißt als Spezialistin natürlicherweise sehr geringe Dichten auf, sodass trotz geringerer Larvensterblichkeit im Frühjahr kein Dichtestress auftritt und keine Flugfähigkeit entwickelt wird. Diese Heuschreckenart bleibt also an Ort und Stelle. Da die Eier der Art zudem sehr austrocknungsempfindlich sind, schrumpfen die Populationen sogar.