Kleine Welt – Stimmt es, dass wir jeden Menschen um sechs Ecken kennen?
- 22.11.2022
- Als Mathematikerin mag ich kurze und präzise Antworten, in diesem Falle ist meine: »Mit großer Wahrscheinlichkeit ja.« Die Aussage geht auf den Sozialpsychologen Stanley Milgram zurück, der in den 1960ern einigen Personen in den USA ein Paket mit einem Adressaten in einem weit entfernten Bundesstaat gab, mit der Bitte dieses nur über Personen, die man persönlich kennt, weiterzugeben. Zu seiner Überraschung benötigten viele Pakete sechs oder weniger Bekannte. Heute kann man computergestützt die sozialen Netzwerke im Internet untersuchen, ist damit nicht mehr auf die USA beschränkt und kommt trotzdem zu durchschnittlichen Zahlen sogar unterhalb von vier Ecken. Wie funktioniert das? Wir können das Modell wie folgt beschreiben: Wählen wir zufällig aus allen Menschen in diesem Raum oder aus allen Menschen unserer Erde zwei aus. Dann fragen wir diese beiden nach allen Bekannten, die sie haben. Fragen wir dann wiederum all deren Bekannte, so braucht es typischerweise nur fünf Bekannte dazwischen, damit sich die beiden anfänglich ausgewählten Menschen über das Netzwerk der Bekannten und ihrer Bekannten kennen. Rechnen Sie doch auch mal nach: Über wie viele Ecken könnten Sie Herbert Grönemeyer kennen? Über wie viele Ursula von der Leyen? Über wie viele Elon Musk? Das Kleine-Welt-Phänomen: Eine erste Überschlagsrechnung könnte wie folgt aussehen: Wenn die erste Person etwa 100 Menschen kennt und auch diese Menschen im Schnitt je 100 Personen kennen, dann haben wir schon im zweiten Schritt ein Netzwerk aus 100 mal 100, also 10.000 Personen. Im dritten Schritt bringt uns diese Rechnung auf 10.000 multipliziert mit 100, also eine Million Menschen. Das nennen wir exponentielles Wachstum. Beim fünften Schritt wären wir sogar schon bei mehr als der Weltbevölkerung, was einerseits das sogenannte Kleine-Welt-Phänomen erklärt, aber doch auch stutzig machen sollte, denn dort war die Rede von sechs Schritten. Bei genauerer Betrachtung haben wir es uns zu leicht gemacht. Denn wenn unsere Bekannten wiederum hundert Bekannte haben, dann sind viele dieser Freunde gemeinsame Bekannte, also gar nicht neue Personen, um die sich unser soziales Netzwerk erweitert. Die tatsächliche Analyse ist also komplexer und führt in die Welt der Graphentheorie. Zentrale Knotenpunkte für besonders gute Vernetzung: Tatsächlich zeigen viele reale Netz - werke ein ähnliches Verhalten und man spricht auch dort vom Kleine-Welt-Phänomen. Diese Netzwerke haben es gemeinsam, dass es einige zentrale Knotenpunkte gibt – in unserem Fall sind dies besonders gut vernetzte Menschen mit Verbindungen beispielsweise in die Politik oder ins Ausland. Wenn Sie also erstmal die Verbindungsecken bis zu Ursula von der Leyen durchgegangen sind, ist es zu Barack Obama auch nicht mehr weit. Die kürzesten Verbindungen verlaufen also meist mit wenigen Schritten zu solch einem zentralen Knotenpunkt, von diesem zu einem weiteren zentralen Knotenpunkt, der wiederum oft schon nah an der gesuchten Person ist. So gleicht sich aus, dass einige Menschen gar nicht so weit verzweigte Bekanntschaften haben, andere dafür Hinz und Kunz kennen. Das Phänomen zeigt sich auch in sogenannten Kollaborationsgraphen. Unter Mathematikern ist die sogenannte Erdős-Zahl gängig: Paul Erdős war einer der berühmtesten Mathematiker des 20. Jahrhunderts mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen im Gebiet der Zahlentheorie, der Graphentheorie und der Stochastik. Die Zahl gibt an, über wie viele – oder wie wenige – Ecken wir Paul Erdős nahekommen. Meine Erdős-Zahl, und übrigens auch die unseres Vizepräsidenten für Forschung, gesellschaftlichen Dialog und Transfer Herrn Kühnberger, ist Drei. Das bedeutet, dass ich eine mathematische Veröffentlichung mit jemanden habe, der selbst wiederum Ko-Autor von Paul Erdős ist. Haben Sie auch eine ErdősZahl? Durchschnittlich liegt die Erdős-Zahl bei Fünf. Betrachtet man also nur die Wege, die über den zentralen Knoten - punkt, Paul Erdős, unseres Kollaborationsgraphen gehen, dann sind Herr Kühnberger oder ich zu irgendeinem zufällig gewählten Mathematiker durchschnittlich in drei bis zu Erdős und noch vier weiteren, also sieben Schritten verbunden. So klein ist die Welt! Zusammenfassend liegt das Kleine-Welt-Phänomen also sowohl daran, dass die Zahl der Bekannten aller Bekannten sehr schnell wächst, als auch daran, dass man oft um wenige Ecken jemand besonders gut Vernetzten kennt. Probieren Sie es doch einfach mal selbst aus! Können Sie eine Verbindung zu einem Gondoliere in Venedig oder zu einem Sherpa in Tibet finden?