Flutwellen – Warum funktionieren Frühwarnsysteme für Tsunamis nicht immer?
- 22.11.2022
- Stellen wir uns vor, wir machen im Urlaub eine Bootstour über das Meer oder fahren mit einer Fähre bei etwas rauer See. Wir stehen vielleicht an Deck und bewundern die Kraft der Wellen. Trotz der zerstörerischen Kraft, die wir solchen Wellen beimessen, können wir uns kaum vorstellen, wie Tsunami-Wellen noch tausende Kilometer vom Entstehungsort entfernt ihre zerstörerische Kraft entfalten können. Ebenso schwer ist es für uns zu verstehen, warum die Vorhersage von Tsunamis so schwierig ist, dass man diese nicht einmal mit einem Flugzeug überlisten, sprich, nicht mit einem Flugzeug »vorausfliegen« und Maßnahmen ergreifen kann. Wie entsteht in Tsunamis diese immense Wucht? Die Erklärung der Eigenschaften von Tsunami-Wellen kann man in der Mathematik suchen. Wellen auf offenem Meer, wie wir sie auf Schiffsfahrten erleben können, sind Windwellen, die sich nur an der Oberfläche des Meeres bilden. Tsunami-Wellen dagegen werden durch einen Energieimpuls verursacht, zu einem sehr hohen Anteil durch Erdbeben unter dem Meeresboden. Sie entstehen in der Tiefsee, aber der enorme Energieimpuls wird durch die gesamte Wassersäule bis an die Oberfläche weitergegeben und breitet sich von der Stelle des Erdbebens aus. Tsunami-Wellen behalten dabei den Kontakt zum Meeresgrund und werden deshalb auch als Flachwasserwellen bezeichnet. Solche Flachwasserwellen werden mathematisch mit der Korteweg-de-Vries-Gleichung beschrieben, einer nichtlinearen partiellen Differentialgleichung dritter Ordnung. Durch Analysen dieser Gleichung können Eigenschaften von Flachwasserwellen abgeleitet werden. Wie schnell sind Tsunamis? Die erste (schlechte) Eigenschaft von Tsunamis ist, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit nicht von der Wellenlänge, sondern nur von der Wassertiefe abhängt. Die Wellenlänge ergibt sich aus der Wurzel des Produktes von Erdbeschleunigung g (9,81 m/s2) und Wassertiefe h. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Flachwasserwelle beträgt zum Beispiel bei einer Wassertiefe von 5.000 m ca. 800 km/h. Da sind wir dann bei der Geschwindigkeit von Flugzeugen. Entsteht also durch den gewaltigen Energieimpuls eines Erdbebens oder von Ereignissen wie Vulkanaktivitäten, Erdrutschen oder selten auch Meteoriteneinschlägen, ein solcher Tsunami, so rast er ab der Sekunde der Entstehung los, bei entsprechender Meerestiefe mit mehr als 1.000 km/h. Nicht viel Zeit, um in ein Flugzeug zu springen oder irgendeine Art von Maßnahme zu treffen. Elektronische Überwachungssysteme können Warnsignale per Funk natürlich viel schneller verbreiten als ein Flugzeug fliegen kann. Trotzdem bleiben, je nach Geschwindigkeit und Entfernung des Ursprungsortes von einer Küste, nur wenige Stunden Zeit, damit Mensch und Tier evakuiert werden können. Selbst in einer Entfernung von 20.000 km können Tsunami-Wellen noch zerstörerisch wirken. Diese Distanz überwinden solche Wellen dann in ca. 20 Stunden. Warum sind Tsunamis so unaufhaltsam? Und damit sind wir bei der zweiten Eigenschaft von Flachwasserwellen, im Fall von Tsunamis einer weiteren schlechten Eigenschaft: Sie verlieren nur sehr langsam ihre Energie. Durch ihre große Wellenlänge bedingt, ist der durch die innere Reibung des Wassers verursache Energieverlust verschwindend gering und der Impuls wird nahezu ungeschwächt weitergegeben. Quasi als »Nebenprodukt« dieser Eigenschaft lässt sich dann noch ableiten, dass sich die Amplitude von Flachwasserwellen vergrößert, wenn die Wassertiefe abnimmt. Dies führt dann dazu, dass Tsunamis an Höhe gewinnen, wenn sie in Küstennähe gelangen. Ist das Wasser nicht mehr so tief, kommt die Welle bis an die Oberfläche durch. Wenn sie aus dem tiefen Meer an die Küste läuft, kann sie sich wegen der Amplitude mehrere Meter, in einzelnen dokumentierten Fällen 50 bis 100 Meter hoch auftürmen. So präzise und nüchtern die Mathematik Tsunami-Wellen beschreiben kann, so machtlos ist die Mathematik in der Frage der Verhinderung von Tsunamis.