Krisenmodus – Wählen Menschen die AfD aus Protest oder aus Angst?
- Dr. Lea Hartwich
- 22.11.2022
- Wählen Menschen die AfD aus Angst oder Wut? Die kurze Antwort lautet: ja. Aus diesen und vielen weiteren Gründen, emotional, ideologisch oder anderweitig. Für die lange Antwort, die all diese Gründe analysiert, haben wir in diesem Format keine Zeit, aber wir können exemplarisch analysieren, wie die AfD aktuell von Angst und Wut über den Anstieg der Lebenskosten profitiert. Betrachten wir zunächst die Ausgangslage: Wir wissen, dass in unseren neoliberalen, von sozialer Ungleichheit und unzulänglichen Sicherheitsnetzen geprägten Gesellschaften Status- und Abstiegsängste real und in allen sozialen Schichten verbreitet sind. Dass sie durch die aktuelle Lage noch verstärkt werden, ist selbsterklärend. Wir wissen auch, dass Menschen als Reaktion auf die tatsächliche oder drohende Verschlechterung ihrer Umstände relative Deprivation erleben. Das bedeutet ein Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, nicht das zu bekommen, was einem zusteht, und daraus resultiert Wut und die Forderung nach politischer Veränderung – die Frage ist nur, welcher Art. AfD bildet klare Feindbilder: Rechtspopulistische Narrative wie das der AfD lenken Angst und Wut in bestimmte Bahnen, indem sie klare Feindbilder und Erklärungen anbieten. Die eigene Gruppe ist dabei in der Regel das Opfer – gerne auch von Verschwörungen und Verrat durch politisch Andersgesinnte. Wir kennen das aus der sogenannten Flüchtlingskrise – nicht Menschen, die vor einem Bürgerkrieg fliehen, sondern Deutsche, die Angst vor »Überfremdung« oder »Bevölkerungsaustausch« haben, sind die wahren Opfer. Oder von der Corona-Pandemie, wo man eher vulnerable Gruppen opfert, als selbst Opfer von Einschränkungen durch eine »Corona-Diktatur« zu werden. Nun ist also, so Alice Weidel, nicht die Ukraine das Opfer eines Angriffskriegs, sondern in Wirklichkeit Deutschland das Opfer eines Wirtschaftskriegs. »Die da oben«, so die Erzählung, haben sich mit den weltpolitischen Großmächten verschworen, um unser Land zu zerstören. Unsere Politiker*innen haben uns »verraten«, indem sie sich weigern, unsere Interessen über die der ukrainischen Bevölkerung zu stellen. Das ist eine klassische Erzählung von Gut und Böse, Wut und Angst bekommen hier nicht nur eine Zielscheibe, sondern werden gleichzeitig noch weiter angefacht. Und das Verfolgen der eigenen Interessen ohne Rücksicht auf Verluste wird umgedeutet in Widerstand gegen Ungerechtigkeit. Mit Illusionen und Egoismus gegen Ungerechtigkeit: Dabei wäre es falsch zu sagen, dass das Ungerechtigkeitsempfinden der Menschen nicht berechtigt ist. Wir leben in einem wirtschaftspolitischen System, das durch seine stetige Umverteilung nach oben nachgewiesener Weise unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächt, unsere Gesundheit beeinträchtigt und Statusangst und Misstrauen schärft. Die aktuellen Krisen zeigen nur allzu deutlich, dass dieses System Profite über Menschenleben stellt, sei es in Bezug auf unsere Gesundheit oder unsere Versorgung mit dem Lebensnotwendigen. Die AfD weiß, dass sie von Krisen profitieren kann und hofft ganz offen darauf, dass sich die Situation weiter verschärft. Doch trotz all ihrer Rhetorik bietet die Partei keine Alternative zu diesem System an, sondern höchstens ein Ventil innerhalb des Systems. Sie bietet die Illusion, dass durch Ethnozentrismus, Nationalchauvinismus und Hass auf marginalisierte Gruppen der eigene Status aufrechterhalten werden kann, ohne grundsätzlich etwas zu ändern. Im Gegenteil, wenn man sich die Positionen der Partei genauer ansieht, deutet alles darauf hin, dass sich bestehende Ungleichheiten unter einer AfD-Regierung noch verstärken würden. Umfragen deuten darauf hin, dass viele ihrer Wähler*innen die Partei aus Wut und Protest gegen die aktuellen Umstände wählen und nicht, weil sie ihr große inhaltliche Kompetenzen zuschreiben. Doch es wäre ein Fehler, das als beruhigendes Zeichen zu werten. Egal, aus welchen Gründen, jeder Wahlerfolg der AfD vergrößert ihren Einfluss auf den politischen Diskurs und normalisiert ihre extremistischen Positionen. Und solange es keine systemischen Veränderungen gibt, die uns einen besseren Umgang mit Krisen erlauben und Abstiegsängste reduzieren, werden rechtspopulistische Narrative und Feindbilder ihre Anziehungskraft nur weiter verstärken und ihre Position als einzige Alternative zementieren.