Aus der Geschichte lernen für die Zukunft?
- 07.11.2008
- Meine Bemerkungen gliedern sich in fünf sehr kurze Abschnitte. 1. Was könnten wir aus der Geschichte lernen? 2. Wir können aus der Geschichte lernen. 3. Aber wir tun es nicht, mindestens zu wenig. 4. Woran liegt das? 5. Was ist zu tun? Was könnten wir aus der Geschichte lernen? - Es ist eine Binsenweisheit: Die Geschichte kennt für alles und jedes irgendein Beispiel. Schon im Alten Testament - bekanntlich vor mehr als 2.000 Jahren niedergeschrieben - lesen wir "Nichts Neues unter der Sonne" (Pred. 1,9). Mehr als zwei Jahrtausende später können wir uns zurücklehnen und sagen: "Wie wahr!" Hinter dem Bibelspruch und unserer Äußerung steht die menschliche Erfahrung: Nichts ist so unglaublich, dass es nicht in der Geschichte der Menschheit schon geschehen wäre. Historische Beispiele haben wir für Frieden und Krieg, für Toleranz und Intoleranz, für Gedeihen und Misslingen, kurz: für ziemlich alle menschenmöglichen Situationen und Umstände. Das 20. Jahrhundert hat uns gelehrt, dass dazu auch der staatlich angeordnete und organisierte Massenmord durch Menschen an Menschen gehören kann: Ich nenne Armenier unter den Türken, Russen unter Stalin und Juden unter Hitler als Beispiele. Allein diese Beispiele zeigen, dass die Geschichte auch Fürchterliches bereithält, aus dem wir nur in dem Sinne lernen dürfen, dass wir es unwiederholbar machen wollen. Wir können aus der Geschichte lernen. - Das ist ebenso eine Binsenweisheit. Wer Geschichte kennt, ob als akademische Disziplin oder einfach deswegen, weil das Interesse dafür vorhanden ist und man sich Kenntnisse aneignen möchte, der weiß, dass man viele historische Ereignisse gewissermaßen wiedererkennen kann: Revolutionen und Kriege, Friedensunionen und Religionsfrieden ähneln sich im Laufe der Zeiten so sehr, dass man aus den einzelnen Vorgängen Typen bilden kann, deren Merkmale untereinander gleich oder wenigstens ähnlich sind. So ist die UNO ein verbesserter Völkerbund, die EU eine verbesserte EWG, und hinter der Einführung des Euro steht die Erfahrung früherer Währungsumstellungen und -unionen. Also: Wir können schon lernen, wenn wir nur wollen. Beispiele gibt es genug. Aber wir tun es nicht, mindestens zu wenig. - Natürlich hat die Frage, die Sie mir gestellt haben, sehr vieles damit zu tun, dass wir alle genau dieses beobachten. So viele Beispiele auch die Geschichte bereithalten mag, so wenig lernen wir daraus. So scheint es wenigstens. Ich will ein Gegenbeispiel nennen, um zu zeigen, wieso es schwierig sein kann, aus der Geschichte zu lernen, und es doch nützlich ist. Die aktuelle Krise der Weltwirtschaft hat mancherlei Ähnlichkeiten mit der Krise 1929. Daraus haben die Staaten gelernt. Auffangpositionen für marode Banken, Regelungen des internationalen Kapitalverkehrs, Aufkaufen von faulen Krediten. Alles das hätte auch 1929 die Krise einzudämmen vermocht. Daraus hat man gelernt, aber nicht vorausdenkend, also in dem Sinne, dass man künftige Krisen verhindert, sondern wieder nur in dem Moment, als das Kind erneut in den Brunnen gefallen war. Vorläufiges Zwischenfazit: Wir lernen anlassbezogen, immer dann, wenn es nötig ist, aber nicht vorausschauend und mit dem Blick auf mögliche künftige Herausforderungen. Woran liegt das? - Die Antwort darauf ist schwierig. Natürlich könnte man es sich leicht machen und sagen, dass das Kind erst in dem Moment lernt, dass die Herdplatte wirklich heiß ist, in dem es den Finger darauf hält. Aber das wäre wirklich ein wenig einfach. Denken wir deswegen an zwei andere Argumente: 1. Wer glaubt, dass Geschichte ein ständiger Fortschritt ist, der hält die Vergangenheit natürlich für unbedeutend, für einen Irrweg, für zu Recht Überwunden, für Überholt und eben für vorgestrig. Wer also in der Zukunft das immer Bessere sieht, der lernt nicht nur nicht aus der Geschichte, der braucht es auch nicht, denn die überwundene Geschichte könnte ihm keine Handlungsmuster für die bessere, leuchtendere Zukunft bieten. Deswegen sind Diktaturen meistens unhistorisch in ihrem Handeln. 2. Wer glaubt, dass die Geschichte ohnehin in der Hand des Allmächtigen ist, ob er Allah heißt oder Gott, der wird die Geschichte kaum beeinflussen können, gleichgültig, ob er aus ihrem bisherigen Ablauf lernt oder nicht. Allah oder Gott hat die Geschichte in der Hand, Menschen sind ihre Spielbälle, alle Geschichte ist Geschichte der göttlichen Heilsbotschaft. Deswegen sind auch religiös fundierte Staaten meistens unhistorisch in ihrem Handeln. Was ist zu tun? - Wer nicht weiß, woher er kommt, kann auch nicht wissen, wohin er geht. Das gibt es in vielen Abwandlungen als Sprichwort weltweit. Aus der Geschichte zu lernen in dem Sinne, in dem man sich auf den Hosenboden setzt, um Spanisch, Excel oder den Umgang mit dem DVD-Recorder zu lernen, das wird nicht funktionieren. Die Geschichte ist keine Gebrauchsanleitung für die Zukunft. Und Historiker sind ausgesprochen schlechte Propheten, also fragen Sie mich bitte nicht nach der Zukunft. Aber ich glaube, wir können eines aus der Geschichte lernen, das für die Zukunft interessant sein könnte: Skepsis gegenüber allen Verheißungen, es werde alles nur deswegen besser, weil man einer bestimmten Idee folge, und Zuversicht, dass selbst die schlimmsten Irrwege der Geschichte jeweils ihr Ende gefunden haben. Das ist zugegeben wenig, aber der Weg zu diesem Lernen ist reizvoll. Marc Bloch, ein berühmter französischer Historiker, der von der SS erschossen wurde, sagte einmal: "Und selbst wenn die Geschichte zu sonst nichts taugt: Sie ist ungeheuer unterhaltsam."