Gewalttätige Jugend? Phänomene aus dem Nichts?
- 12.11.2010
- Abgesehen von vereinzelten verwirrten Geistern geht niemand ernsthaft davon aus, dass genetische Strukturen oder eine bestimmte Religionszugehörigkeit für beobachtbare Jugendgewaltphänomene verantwortlich sind. Das weltweit am besten gesicherte Forschungsergebnis zur Jugendgewalt lautet: Jugendliche sind nicht gewalttätig, sondern sie werden gewalttätig. Um gewalttätig zu werden, müssen dabei Jugendliche über eine längere Zeit massiven Belastungsfaktoren ausgesetzt worden sein. Jugendgewalt ist demnach ein sozial erlerntes asoziales Verhalten. Trotzdem: Nichts ist plausibler als die Vorurteile in vielen Köpfen, wenn es darum geht, Jugendgewalt zu erklären. Und nichts klingt in vielen Ohren und Herzen verlockender und kaum etwas rutscht den meisten Erziehungsverantwortlichen leichter über die Lippen als der Appell an die (männlichen) Jugendlichen, sich zu bemühen und nicht gewalttätig zu sein, sondern sich so grundanständig und friedfertig wie wir Erwachsenen zu gebärden. Hierbei wird vergessen, dass die Erwachsenen sehr häufig selbst nicht »friedlich« sind. So hat eine von uns durchgeführte repräsentative Untersuchung in vier europäischen Ländern ergeben, dass in rund 25 Prozent aller Familien die Kinder von den Eltern körperlich misshandelt werden und in jeder sechsten Familie die Eltern sich gegenseitig schlagen. Diese Familien kommen, so das übereinstimmende Ergebnis in allen untersuchten Ländern, regelrecht aus der »Mitte« der Gesellschaft. Weder der sozio-ökonomische Status noch der Migrationshintergrund bestimmen in hinreichendem Maße die familiäre Gewaltaufschaukelung. Wir halten somit die Jungendlichengewalt für alarmierend, »vergessen« aber allzu leicht die Erwachsenenanteile daran – und diese sind enorm. Der Ruf nach einem Mehr an Ordnung als Allheilmittel zur Begegnung von Jugendgewalt muss deswegen ebenso deutlich zurückgewiesen werden wie ein bagatellisierendes Schulterzucken oder gar ein Vernachlässigen der Opfer. Von allen drei Zugangsweisen haben wir bislang hinreichend gehabt und sie haben allesamt zu negativen mittel- und langfristigen Folgen geführt. Es ist das soziale Milieu in Elternhaus (Partnergewalt, körperliche Misshandlung Jugendlicher), Schule (Beleidigung durch Lehrpersonen) und Freizeitkultur (Alkohol- und Drogenmissbrauch), welches regelrecht darüber bestimmt, ob Jugendliche gewalttätig werden – und dies unbesehen ihres Migrations- oder des Bildungshintergrunds. Dabei sei gesagt, dass wir zu einer regelrecht umwerfenden Reduktion der Gewalt im Alltag unserer Kinder keinen Cent ausgeben müssten! Wir müssten uns einzig endlich dafür entscheiden, das zu tun, was bereits seit vielen Jahren im Gesetz fest verankert ist und dies auch durchsetzen.