Geschichtsschreibung. Wann verschwimmen die Grenzen zwischen Wahrheiten und Fiktion?
- 15.11.2013
- Wir Historiker stehen unter dem Verdacht, die Wahrheit zu sagen. Das wird von uns erwartet und wir tun es. So einfach könnte es sein, nur ist es so einfach nicht. Ein Historiker müsse lediglich zeigen, wie es eigentlich gewesen sei, sagte Leopold von Ranke, der bedeutendste deutsche Historiker des 19. Jahrhunderts. Damit setzte er eine bis heute in den Köpfen zementierte Norm der Geschichtswissenschaft. Er begründete den Anspruch, die Wahrheit zu finden und sie allgemein zugänglich zu machen. Historiker würden, so Ranke, die einzig denkbare Wahrheit ermitteln und sie für die Nachwelt in Worte fassen. Das gilt in den Augen vieler bis heute. Rankes Anspruch blieb lange unwidersprochen. Er bestimmte das Selbstverständnis der Historiker über Generationen. Ranke hatte aber noch mehr geleistet: Er hatte den späteren Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften vorweggenommen. Eine solche Geschichtswissenschaft konnte auch deswegen zur Leitwissenschaft der Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts werden. Die extreme Gegenposition lautet, dass jede Re-Konstruktion der historischen Wahrheit im Grunde nur eine beliebige Konstruktion sei. Wer einen historischen Vorgang schildere, der nehme seine eigenen Vermutungen als Ausgangspunkt. Aus unbestreitbaren Fakten, aus der interpretierenden Kombination dieser Fakten und aus Annahmen, die durch nichts zu beweisen seien, werde eine Erzählung konstruiert, die wahre Elemente, aber auch vieles andere enthalte, was von Teilwahrheit bis zu völliger Erfindung reiche. Niemals aber komme »die« Wahrheit heraus. Ein Beispiel soll zeigen, was gemeint ist: Einhard, der Biograph Kaiser Karls des Großen, berichtet über dessen Kaiserkrönung am Weihnachtstag 800, dass Karl sicherlich nicht in den Petersdom gegangen wäre, wenn er gewusst hätte, was dort geschieht. Das ist höchstens eine Teilwahrheit, schlimmstenfalls eine Fiktion. Einhards Aussage ist etwa so glaubhaft wie ein unangemeldeter Besuch Barack Obamas im Privathaus von Angela Merkel. Natürlich war eine Kaiserkrönung eine lange vorbereitete Zeremonie. Der Geschichtsschreiber überliefert eher eine Einschätzung Karls, dem die Rolle des Papstes bei der Krönung zu dominant erschien, aber das ist kein Tatsachenbericht. Wahrheit oder Fiktion? Es gibt nicht »die« Wahrheit ohne alle Fiktion, aber in jeder Fiktion steckt immer auch Wahres. Niemals wird es gelingen, Geschehenes hundertprozentig einwandfrei zu rekonstruieren. Geschichtsschreibung ist nie frei von der Gefahr der Parteilichkeit. Unsere Methoden erlauben es nicht, »die« Wahrheit von allem Fiktionalen zu säubern. Es ist nur zu menschlich, dass wir uns unsere Vergangenheit immer wieder neu zusammensetzen. Historiker präsentieren auf der Basis ihrer Methoden und Kenntnisse eine Analyse, die einer Wahrheit möglichst nahekommt. Wir haben aber nicht die Freiheit, die Leerstellen durch Fiktion aufzufüllen und damit den Eindruck zu erwecken, wir wüssten »es« eben doch. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.