Bestseller, Schwertspiele, Märkte. Warum hat das düstere Mittelalter bei uns so viel Strahlkraft?
- 14.11.2014
- Mittelalterromane wie »Die Päpstin«, Filme auf der Basis dieser Romane, Reenactment auf professionell sehr hohem Niveau und die wie die Pilze aus dem Boden schießenden Mittelaltermärkte zeigen, dass diese Art Mittelalter eine Faszination ausübt. Selbst wenn man die Frage beiseitelässt, was am Mittelalter der »Wanderhure«, an Schwerterspielen auf romantischen Burgen und am Metbecher, den man mit Talern statt Euros bezahlt, den wissenschaftlich vertretbaren Kenntnissen vom Mittelalter entspricht, bleibt eines: Dieses Zeitalter zieht, wenn man es denn publikumswirksam darstellt, die Massen an. Warum? 1. Das Mittelalter ist anders. Wissenschaftlich nennt man das »Alterität«. Vieles weicht von unseren heutigen Erwartungen deutlich ab: menschliches Verhalten, Daseinsbedingungen, Zivilisiertheit, Kalkulierbarkeit des Alltags. Es ist ein wohliger Schauer, der dem über den Rücken läuft, der eine filmwirksame Ketzerverbrennung sieht oder dunkle Höhlen, in denen die Unterschichten hausen, während die oberen Zehntausend des Mittelalters allgemein in Filmen mit allem ausgestattet und bekleidet werden, was die Schränke an Kettenhemden, Samtkleidern und tiefen Ausschnitten eben so hergeben. Die Konsumenten lehnen sich zurück und spüren die Distanz. 2. Das Mittelalter sind wir: Gleichzeitig aber spüren die Konsumenten dieses massentauglichen Gegenwartsmittelalters, dass es eben doch um unsere Vorfahren geht. Das europäische Mittelalter und seine handelnden Figuren stehen uns meistens näher als ungarische Reitertruppen, als Wikinger oder als marodierende Berbertruppen im hochmittelalterlichen Spanien. Wenn aber meine eigene Sache gezeigt wird, gewissermaßen Uropa in mittelalterlicher Verkleidung, fühle ich mich selber berührt und betroffen. Dann glaube ich, die Dinge, die ich lese verstehen, gar beurteilen zu können. Dann weiß ich oder glaube es wenigstens, dass ich selber vor 800 Jahren genauso herumgelaufen wäre. 3. Das Mittelalter ist multifunktional zu aktualisieren: Wenn ein Journalist irgendwelche Zustände als vorgestrig charakterisieren will, nennt er sie mittelalterlich. Das gilt umstandslos entweder für die PkwMaut oder für Steinigungen im Orient. In dem Maße, in dem dieses Label funktioniert, zeigt es, dass wir alle glauben, den Vergleich zwischen dem Mittelalter und der Gegenwart spontan herstellen zu können. Man kann es aber auch anders aktualisieren: Der Prinzessinnentag in deutschen Tanzschulen ist ein solches Phänomen, wo kleine Mädchen in einer Mischung zwischen Barbie und der Päpstin ausstaffiert werden und sich verehren lassen dürfen. Ich frage besser nicht nach dem Frauenbild, das dahinter steht. Anders und doch gleich, aktualisierbar und doch glücklicherweise entfernt: Das Mittelalter bietet gewissermaßen unproblematische Anknüpfungspunkte und gleichzeitig den wohligen Schauer des mit Zentralheizung und Handy lebenden Zeitgenossen unserer Tage.