Flucht nach Deutschland. Wie wird sich unsere Gesellschaft durch die Flüchtlingsströme verändern?
- FB 01 – Kultur- und Sozialwissenschaften
- Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien
- 13.11.2015
- Migration und Flucht – Europa scheint im Moment über kaum etwas anderes zu sprechen. Bilder überfüllter Züge und Bahnsteige haben eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Dementgegen stehen Gewalt gegen Flüchtlinge, in Brand gesetzte Asylunterkünfte und Drohungen gegen Engagierte. Während lange positive Zukunftserwartungen und Zuversicht herrschten, ist seit September 2015 die Diskussion umgeschwenkt auf Maßnahmen zur Abwehr von Flüchtlingen. Das Asylrecht wurde verschärft. Stimmen werden lauter, die die Grenzen mit Zäunen bewehren möchten. Andere sehen die EU in höchster Gefahr. Immer häufiger gehen Angst und Mutlosigkeit um, auch in der Frage, wie es um die Zukunft Deutschlands bestellt ist. Den Blick in das Morgen zu wagen und Prognosen zu erstellen, ist ein schwieriges Geschäft. Elementare Voraussetzung ist die Kenntnis von Entwicklungslinien der Vergangenheit und der Gegenwart, die sich in die Zukunft verlängern lassen. Genau hier aber liegt das Problem, denn wir stochern im Datennebel: Es gibt keine verlässlichen Angaben über den Umfang der Flüchtlingszuwanderung im laufenden Jahr. Zwar ist die Zahl derjenigen bekannt, die sich im Asylverfahren befinden, allerdings leben viele Hunderttausende in der Bundesrepublik, die wegen der Überforderung der zuständigen Behörden noch nicht einmal registriert sind, geschweige denn einen Asylantrag stellen konnten. Auch lassen sich keine gesicherten Angaben finden über die Zahl jener Flüchtlinge, die in Deutschland bleiben werden. In den ersten neun Monaten des Jahres 2015 wurden rund 40 Prozent der (im Vergleich zur Gesamtzahl der Zuwanderer relativ wenigen bearbeiteten) Asylanträge positiv beschieden, weitere 40 Prozent der Anträge sind abgelehnt worden. Sollten eine Million Flüchtlinge 2015 nach Deutschland kommen, heißt das also keineswegs, dass eine Million Menschen bleiben dürfen. Schutz wird zudem nicht auf Dauer gewährt, wir wissen nicht, wie lange Flüchtlinge sich in Deutschland aufhalten werden, selbst wenn ihrem Antrag stattgegeben wurde. Die Erfahrung lehrt: Kennzeichen von Migration ist immer Fluktuation, so kamen 2014 wegen der günstigen wirtschaftlichen Situation beinahe 1,5 Millionen Menschen nach Deutschland, zugleich gingen weit über 900.000. Die Frage nach den Veränderungen der deutschen Gesellschaft durch die laufende Flüchtlingszuwanderung kann also angesichts des Fehlens einer auch nur halbwegs soliden Datengrundlage nicht seriös beantwortet werden. Klar ist letztlich nur eines: Die Vielfalt der Herkünfte, Lebensentwürfe und Weltsichten werden beschleunigt weiter wachsen. Ohnehin seit Langem illusorische Vorstellungen von Homogenität im Blick auf die Zusammensetzung der Bevölkerung, ihrer Orientierungen oder Identitäten bilden immer weniger eine realistische Basis für die Entwicklung von Überlegungen über die Gestalt und die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft der Bundesrepublik, die nicht erst seit 2015 eine Migrationsgesellschaft ist.