Extremismus im Kinderzimmer. Warum nimmt die Zahl radikalisierter Mädchen so rasant zu?
- 11.11.2016
- Zunächst eine gute Nachricht: Die Zahl der von Deutschland nach Syrien ausgereisten jungen Frauen ist im Jahr 2016, insbesondere in der zweiten Jahreshälfte, deutlich zurückgegangen. Ursachen sind hier in erster Linie die erheblichen Gebietsverluste des sogenannten Islamischen Staates im Irak und in Syrien. Nach Lage der Dinge gibt es keine ruhigen Rückzugsorte mehr, in der sich die „Idylle“ eines gemutmaßten „richtigen“ islamischen Familienlebens inszenieren lässt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Problem der Radikalisierung hierzulande der Vergangenheit angehört. Berichte aus den Beratungseinrichtungen zeigen, dass nach wie vor junge Frauen und Mädchen sich radikalisieren. Die Anzeichen hierfür sind nicht immer eindeutig und zumeist vielfältig: ein neuer Kleidungsstil, neue Ansichten über das „richtige“ islamische Leben, abwertende Äußerungen zum Lebensstil der Eltern sowie neu gewonnene Freunde und Freundinnen. Da es sich um ein relativ neues Phänomen handelt, sind die Ursachen und Hintergründe von Radikalisierungsprozessen bislang nicht ausreichend erforscht. Folglich kann hier keine wirklich profunde Erkenntnislage dargelegt werden. Wir wissen leider nur wenige Dinge. Dazu gehört, dass Radikalisierung nie eine einzige Ursache hat, und dass jeder Fall sich anders darstellt. In der Forschung sprechen wir von einem multifaktoriell beeinflussten Prozess. Mögliche Faktoren sind: • Krisenerfahrungen, die zum Beispiel durch besondere persönliche Belastungen ausgelöst werden • Diskriminierungserfahrungen, die mit Herkunft und Religion zusammenhängen; • typische Aspekte der Jugendphase, zum Beispiel die Lust an der Provokation, die Kompensation von Defizitlagen und die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben • die Bedürfnisse nach Gerechtigkeit, die durch objektive Konfliktlagen angesprochen werden; • Gruppeninteraktionen, die auf Abgrenzung zielen, gegenseitige Kontrolle und Überbietung. Darüber hinaus wissen wir ein wenig über die Rekrutierungsstrategien neosalafistischer Gruppen, die mit dem „Islamischen Staat“ in Verbindung stehen. Die Ansprachen der Mädchen laufen häufig über Whatsapp-Gruppen. Hierbei verfahren die Rekrutierer und Rekrutiererinnen nach einem ähnlichen Muster: Eine Ausgereiste, die in Rakka angekommen ist, eröffnet mit ihren Kontakten systematisch neue Gruppen und berichtet über die „Errungenschaften“ des Islamischen Staates und das wunderbare Familienleben. Diese ausgeschmückten Berichte enthalten auch das Angebot einer organisierten Ausreise bzw. Schleusung nach Syrien. Leider erwies sich diese Vorgehensweise mehrfach als erfolgreich. Für die professionellen Akteure in der Radikalisierungsprävention stellt diese Vorgehensweise ein großes Problem dar. Die Chat-Aktivitäten finden häufig statt, ohne dass Eltern, Lehrkräfte oder andere Menschen im unmittelbaren Umfeld des Mädchens hiervon Kenntnis nehmen können. Folglich gab es für Eltern und Angehörige manche böse Überraschung. Das Kind ist verschwunden – und so recht weiß keiner, wie es dazu kommen konnte.