Fremdenhass und Flüchtlingshilfe. Was hat Shakespeare uns an
seinem 400. Todestag zu sagen?
- 11.11.2016
- Zum Anfang des siebzehnten Jahrhunderts war Shakespeare an der Revision eines Dramas mit dem Titel Sir Thomas More beteiligt. Es hatte die Niederschlagung eines Volksaufstands gegen die in London ansässigen französischen und italienischen Kaufleute und Geldverleiher zum Inhalt und war wegen seiner fremdenfeindlichen Tendenz auf das Missfallen des Zensors gestoßen. In der von Shakespeare verfassten Szene überzeugt Thomas More, der später berühmt gewordene Humanist und Lordkanzler, die Aufständischen davon, von ihrem fremdenfeindlichen Treiben abzulassen und sich zu ergeben. Seine Argumente sind folgende: Wenn sie Erfolg hätten und die Ausländer gewaltsam vertreiben würden, hätten sie ein Beispiel von Gesetzlosigkeit gesetzt und würden sich ihres eigenen Lebens und Wohlstands nicht mehr sicher sein können. Noch mehr Eindruck macht hingegen ein weiteres Argument Mores: Was wäre, wenn der König die Aufständischen zur Strafe ins Ausland verbannen würde? Würde es ihnen gefallen, dann in ein Land zu gelangen, dessen Bewohner ebenso barbarisch gegen Ausländer vorgehen wie sie selbst? Ihre „montainish inhumanity“, gigantische Unmenschlichkeit, würde auf sie selbst zurückfallen. Lässt sich nun aus Shakespeares Darstellung der Beendigung eines ausländerfeindlichen Aufstands im sechzehnten Jahrhundert ein Modell für uns heute ableiten? In einem unmittelbaren Sinn sicher nicht. Mores Argument, dass man dem von Gott eingesetzten König gehorchen müsse, um ein Abgleiten des Landes in die Anarchie zu vermeiden, und Ausländer tolerieren müsse, weil der König das so will, wird heute auf wenig Verständnis stoßen. Auch war Shakespeare das Phänomen der hunderttausendfachen Flucht aus einem Bürgerkriegsland nicht bekannt und wohl auch nicht vorstellbar. Zwei Punkte wirken gleichwohl erstaunlich aktuell: Der eine ist Shakespeares vehemente Ablehnung von populistischer Demagogie. Das bekannteste Beispiel ist Julius Caesar, wo Mark Antony das Volk gegen die Senatoren aufhetzt und zum Auslöser von blutigen Unruhen und schließlich einem Bürgerkrieg wird. Der andere Punkt ist die Neugier und Offenheit gegenüber fremden Ländern und Völkern, Sitten und Gebräuchen. Durch Shakespeares Dramen, von , Romeo und Julia‘ und ,Der Widerspenstigen Zähmung‘ hin zum ,Kaufmann von Venedig‘ und ,Viel Lärm um Nichts‘, konnten sich Shakespeares Londoner Zuschauer etwa ein Bild von Italien und der italienischen Kultur machen, die von vielen gebildeten Engländern als der englischen überlegen angesehen wurde. Diese Offenheit, Neugier und Lernbereitschaft gegenüber Einflüssen aus fremden Kulturen waren die Faktoren, die Britannien in den Jahrhunderten nach Shakespeare zur wissenschaftlich, ökonomisch und politisch erfolgreichsten Nation der Welt machen sollten.