Calcio storico. Wie kickte das Mittelalter?
- 11.11.2016
- Fußball und Rugby stammen aus dem britischen 19. Jahrhundert. 1863 wurde eine Football Association gegründet, die Regeln erließ, auch eine Abseitsregel. Erst 1874 waren auch Schiedsrichter auf dem Feld. „Abseits“ ohne Schiedsrichter, so etwas scheint funktioniert zu haben. 1874/75 brachte ein Braunschweiger Lehrer namens Konrad Koch das Fußballspiel nach Deutschland. Seine Begründung: „Beim Fußballspiel findet unsere deutsche, des frischen Spiels im Freien entwöhnte Jugend am schnellsten ihre verlorene Spiellust wieder.“ Manche Argumente sind überzeitlich gültig. Fußball vor dem 19. Jahrhundert? Wir wissen kaum etwas darüber. Es war offensichtlich zu allen Zeiten ein menschliches Grundbedürfnis, mit dem Fuß nach Dingen zu treten, die herumlagen. Anders lässt es sich nicht erklären, dass über die ganze Welt verteilt Spiele praktiziert wurden, die dem heutigen Fußball in zwei Punkten entsprachen: Man trat mit dem Fuß gegen etwas Rundes. Wenn dies Fußball ist, dann ist das älteste Fußballspiel in China zu finden. Dort wurde es im 3. Jahrhundert v. Chr. als eine Art militärischer Ausbildung praktiziert. Neun Jahrhunderte später, um 600 n. Chr., war dieses Spiel in China Volkssport. Es gab eine Profiliga, Regeln für das Spiel und einen luftgefüllten Ball. Nochmals ein Jahrhundert später war der vorherige Nationalsport in China völlig vergessen. Sagen Sie das heute mal dem DFB! Der eigentliche Calcio storico – wörtlich: historischer Fußball – gehört zum offensichtlichen Ur-Inventar der Stadt Florenz. Da spielt man jährlich am 24. Juni, dem Tag Johannis des Täufers, ein heute ziemlich brutales Spiel, irgendwo zwischen Kampfsport, Rugby und Fußball. Im 15. Jahrhundert war das noch zivilisierter: Man spielte in Feiertagsbekleidung, weswegen eine der Regeln aus dem Jahre 1580 besagt, es solle die Mannschaft gewinnen, die mehr Tore erziele, nicht die, die besser angezogen sei. Heute wäre das für manche Bundesligamannschaften eine erwägenswerte Regelmodifikation. Gespielt wurde und wird dieser Calcio Fiorentino, der Florentiner Fußball, von Mannschaften, die aus den historischen Stadtvierteln stammen. Der Sinn dieses Spiels ist es, jährlich die Vorherrschaft eines der Stadtviertel unter Beweis zu stellen. Das gibt es in anderen italienischen Städten auch. Ein Kampf um politische Herrschaft wurde sportlich ausgetragen. Heute ist der Calcio Fiorentino kein Sport mehr im Wortsinne. Denn was soll man von einem vermeintlichen Sport halten, dessen Spielabläufe seit dem beginnenden 20. Jahrhundert nur dann unterbrochen werden, wenn Sanitäter oder Ärzte auf das Spielfeld müssen? Heute ist aus dem mittelalterlichen Kampf um Vorherrschaft in Sonntagskleidung ein ziemlich brutaler Mannschaftskampfsport geworden, bei dem Verhaltensweisen, die durch FIFA-Schiedsrichter mit der Roten Karte bedacht werden, völlig normal sind. Calcio storico: Wie also kickte das Mittelalter? Offensichtlich zahmer als heute, denn die Regeln waren wesentlich rigider als heute. Und offensichtlich nicht zum Spaß, sondern zu politischen Zwecken. Ein Beispiel mehr, dass man sich das Mittelalter nicht zurückwünschen sollte. Politische Zwecke – da gehen wir heutzutage doch lieber zur Wahlurne!