Reformationsjahr 2017. Ist Luther wirklich ein Vorbild?
- 11.11.2016
- Martin Luther gab im Jahre 1517 den Anstoß zur Reformation, die Deutschland nachhaltig veränderte. 2017 jährt sich dieses Ereignis zum 500. Mal und die evangelischen Kirchen feiern Martin Luther. Erstmals kommt dabei aber offen zur Sprache, dass Luther auch problematische Seiten hatte. Zu denken ist dabei vor allem an die feindliche Haltung gegenüber den Juden und an die aggressiven Ausfälle gegen die Päpste, die sich vor allem in Luthers letzten Lebensjahren finden. Doch Luther war kein Heiliger und wollte kein Heiliger sein, sondern er war ein Mensch mit Stärken und Schwächen, ein Mensch, der auch Schuld auf sich geladen hat. Wir müssen Luther differenziert betrachten, und bei Luther selbst lässt sich differenziertes Denken lernen. Bei nichts Geringerem als der Bibel hat Luther, die Aufklärung vorwegnehmend, ein differenzierendes Denken geübt, indem er die Heilige Schrift von ihrem Zentrum – Christus selbst – her auslegte und damit verbunden Sachkritik an der Bibel übte: mit der Bibel gegen die Bibel. Mit dem Neuen Testament gegen das Alte, mit dem Evangelium gegen das Gesetz, mit Paulus gegen Jakobus. Nicht alles, was in der Bibel steht, war für Luther wichtig, und nicht alles war richtig. Auch Luther und die Reformation versuchen wir heute von ihrem Zentrum her zu verstehen und differenziert, kritisch zu betrachten: mit Luther gegen Luther. Die hässliche Judenfeindschaft des alt gewordenen Wittenberger Professors ist zu verurteilen, aber mit dem, was der junge Reformator 1523 vorschlug, war er seiner Zeit weit voraus: Er wollte den Juden das Recht geben, ihren Wohnsitz und ihren Beruf frei zu wählen, und er wollte religionsverbindende Ehen erlauben. Dinge, die in Deutschland erst im 19. Jahrhundert Wirklichkeit wurden. Luthers Vorschläge atmeten den Geist der Freiheit. Freiheit war ein zentrales Anliegen der Reformation. Erstmals in der Religionsgeschichte hat Luther mit der Religion Freiheit verbunden. Religion ging und geht oftmals einher mit Zwang, mit Zwängen und Ängsten. Luther erklärte schon 1520: Der Glaube macht frei, Christen sind Freie, Religion muss mit Freiheit verbunden sein. Das ist auch heute noch aktuell und bedenkenswert. Freilich, auf diesen innovativen, auch heute noch inspirierenden Luther kann und darf sich nur berufen, wer Luthers Schattenseiten nicht verschweigt. Aber wie gesagt: Luther war kein Heiliger und wollte auch kein Heiliger sein. Und er hat sich auch nicht als Vorbild verstanden, sondern als Vorkämpfer und Bahnbrecher: für eine Kirche und Gesellschaft, in der der Einzelne als ein freier, mündiger Mensch verantwortlich vor Gott steht und seinen Mitmenschen in Liebe, frei von Selbstsucht, dient. Luther – und die übrigen Reformatoren – haben viel Neues angestoßen, vieles, was nicht nur das westliche Christentum, sondern auch unsere westliche Kultur bis heute prägt: Gottesdienste in der Landessprache, die die Menschen verstehen, und nicht in heiligen Sprachen; Bildung für alle, auch für die Mädchen, auch auf den Dörfern; Religion nicht als Ritual, sondern als Lebenshaltung; kritische Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Tradition, sogar mit der Bibel.