Kulturwandel. Duzen Sie noch, oder siezt du wieder?
- 17.11.2017
- „You can say you to me!“ So soll Helmut Kohl sich an Ronald Reagan gewandt haben. Dabei gibt es keine Entsprechung im Englischen für die deutsche Unterscheidung zwischen „Du“ und „Sie“. Das Englische hat vor rund 400 Jahren die Unterscheidung zwischen „you“ (Sie/Ihr) und „thou“ (Du) aufgegeben. Es gibt also kein wirkliches „Du“ mehr und man siezt quasi alle Gesprächspartner. Im Niederländischen gibt es noch die Unterscheidung zwischen „jij“ (Du) und „u“ (Sie). Und der Fußballtrainer van Gaal wurde 2010 damit zitiert, dass er sich von seinen Töchtern siezen lasse – wie in Thomas Manns Zeiten. Undenkbar im heutigen Deutsch, oder? Der Gebrauch von „Du“ und „Sie“ in den Sprachen, die diese Unterscheidung noch haben, ist in der Regel soziokulturellen Einflüssen und Wandel unterworfen. So auch im Deutschen. Es begann mit „Du“ und erst im 9. Jahrhundert kam ein höfliches „Ihr“ hinzu. Diese Unterscheidung hielt sich viele Jahrhunderte; Goethe hatte noch „Ihr“ und „Euer“ als höfliche Anredepronomen im Repertoire. Heute bleibt davon nur „Euer Ehren“ – eine Übersetzung aus dem Englischen und vor deutschen Gerichten nicht üblich. Und vor gut 400 Jahren finden wir auch noch das „erzen“ („Erkläre er mir das mal!“). Etwa aus der gleichen Zeit stammt unser heutiges „Sie“. Es steht für eine professionelle Distanz, je nach Situation auch für Respekt und wird in vielen Kontexten immer noch erwartet. 1977 wurde eine Nürnberger Marktfrau für hartnäckiges Duzen eines Polizisten zu einer Geldstrafe von über 2.000 DM verurteilt. Dabei muss das Du gar nicht negativ und respektlos sein – auch wenn es manchmal so gemeint sein kann. In vielen Kontexten (zum Beispiel bei einer schwedischen Möbelkette) soll es vielmehr Vertrautheit, Gelassenheit, Nähe, Solidarität und Hierarchielosigkeit vermitteln. Ob dies auch gelingt, wenn in großen Firmen das Du zur Pflicht gemacht wird, bleibt fraglich: Welcher Angestellte würde dem Chef das Du verweigern (und auch hierzu gab es bereits Gerichtsverfahren…)? Erst aus der bewussten Entscheidung für das Du kann diese Vertrautheit und (zumindest verbale) Hierarchielosigkeit erwachsen. Wir finden eine grundsätzliche Ausbreitung des Du, vor allem bei jüngeren Sprechern und innerhalb der gleichen Altersgruppe. Gleichzeitig scheint sich eine gewisse Sättigung abzuzeichnen. Das Sie bleibt in bestimmten Kontexten und Funktionen erhalten. Wer angemessen siezt, ist also keineswegs konservativ. Ebenso: Wer angemessen duzt, ist keineswegs ein respektloser Flegel. Das Sie schützen zu wollen ist zwar ehrenwert, aber ebenso unnötig wie aussichtslos. Anredeformen sind permanentem Wandel unterworfen. Und so wie wir die Veränderung bestimmter Haltungen beobachten (man denke nur an das Verhältnis von Eltern und Kindern, von Ehepaaren), so wandeln sich auch die sprachlichen Signale hierfür. – Ein ganz natürlicher und unaufhaltsamer Prozess. Und wer weiß: Vielleicht kommt sogar das „erzen“ eines Tages wieder zurück?