Die Verwandlung. War Kafka kafkaesk?
- 16.11.2018
- Die Frage der Leserin: „War Kafka kafkaesk?“ wirft eine Schwierigkeit auf, mit der die Literaturwissenschaft stets ringt. Ich kann die Frage ohne weiteres in eine methodische Frage übersetzen; sie lautet: Wie hilfreich für das Verstehen literarischer Werke ist ihre Nachwirkung? Ich spreche von Nachwirkung, denn das Wort „kafkaesk“ stammt nicht von Kafka selbst. Man bildete das Wort in Anlehnung an das Wort „grotesk“, das nun nicht mehr dem Werk Kafkas galt, sondern einer bestimmte Lebenslage. Das Wort steht seit 1973 im Duden mit der Bedeutung: „auf unergründliche Weise bedrohlich“. Der Mensch scheitert angesichts einer übergeordneten Macht. Nun ergibt sich die Bedeutung eines Wortes aus seinem Gebrauch. In seinem Gebrauch hat sich das Wort „kafkesk“ vom Werk Kafkas entfernt. „Der Process“ oder „Die Verwandlung“ sind ebenso wenig kafkaesk, wie in Sophokles‘ Drama „König Ödipus“ die Hauptfigur Ödipus einen ÖdipusKomplex hat. Das ist die viel spätere Erfindung Sigmund Freuds und bezeichnet den Wunsch eines jeden Knaben, den Vater zu töten und die Mutter zu heiraten. Dagegen entsteht Sophokles‘ Tragödie erst aus der Anstrengung des Ödipus, genau das NICHT zu tun und damit den in Delphi prophezeiten Inzest und Patrizid zu entgehen. Wenn die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch ist und wir mit der heutigen Bedeutung von „kafkaesk“ hinsichtlich Kafkas Werk nicht einverstanden sind, dann können wir dessen Gebrauch zu ändern suchen. Ich ersetze im Folgenden die Bedeutung des Scheiterns durch die Bedeutung der Verschleppung von Sinn. Mein Beispiel ist der kürzeste Prosatext Kafkas (aus dem Jahr 1912), der aus einem einzigen, freilich sehr komplexen Satz besteht: „Wunsch, Indianer zu werden Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.“ Ein erster Leseeindruck könnte in dem KarlMay-Topos des mit dem Pferd verwachsenen Indianers bestehen. Viele Interpreten deuten so. Doch wenn man den Satzbau genauer betrachtet, entdeckt man, dass diese Bedeutung ihre Grundlage verliert. Und zwar in einzelnen, den Sinn verschleppenden Schritten. Der Wunsch „Wenn man doch ein Indianer wäre“, wird eine Zeitlang gehalten, doch dann setzt der Text mit einem „bis man die Sporen ließ […] bis man die Zügel wegwarf“ fort – das ist nun nicht mehr der alte Wunsch. Der alte Wunsch hätte die Fortsetzung mit der Konjunktion „dann“ gefordert: Wenn man Indianer wäre, dann würde man alles Zivilisatorische ablegen. Doch mit einem „bis“ als Fortsetzung sieht alles anders aus. Jetzt heißt es: Wenn man doch Indianer wäre, bis man alles Zivilisatorische ablegte. Ab hier besteht die Aufgabe, die beiden Möglichkeiten in einem Verständnis zu versöhnen. Die Lösung entzieht sich freilich noch eine Weile. Wie kann man etwa Sporen lassen, die es nicht gibt? Kafkaesk wäre also nicht das Scheitern in einem Machtsystem, sondern der Versuch des Autors, eine Welt zu schaffen, die nicht so leicht zu fassen ist. Immer neue Sinnmöglichkeiten entstehen. Die literarische Produktivität tritt an die Stelle des Scheiterns.