Schmähkritik. Was darf Satire, was darf sie nicht?
- 16.11.2018
- „Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.“ Mit diesem Bonmot beginnt Kurt Tucholskys berühmte Glosse „Was darf die Satire?“, die vor fast 100 Jahren, im Januar 1919, erstmals publiziert wurde. Die Frage danach, was der Satire erlaubt sei und was nicht, begleitet diese Gattung von ihren antiken Anfängen an bis in unsere Zeit. In der jüngsten Vergangenheit ist eine kontroverse Diskussion dieser Frage bekanntlich durch ein Gedicht des Satirikers und Fernsehmoderators Jan Böhmermann ausgelöst worden, das von dem türkischen Präsidenten Erdogan handelt. Das mittlerweile in Teilen verbotene Gedicht wurde von Böhmermann mit dem Titel „Schmähkritik“ versehen und ausdrücklich als Beispiel für etwas präsentiert, was nicht mehr als legitime Satire gelten könne. Wie der Fall Böhmermann zeigt, hat die gestellte Frage auch eine juristische Seite, für die ich als Literaturwissenschaftler allerdings nicht kompetent bin. Ich konzentriere mich daher auf die Frage, wie der Bereich des Zulässigen von Satirikern selbst und von Dichtungstheoretikern abgegrenzt worden ist. Vier Richtlinien sind besonders häufig auf gestellt und variiert worden. Erstens: Die Satire soll der Wahrheit verpflichtet sein. Sie darf und soll zwar übertreiben, aber die Übertreibungen sollen erkennbar dazu dienen, auf tatsächlich existierende Missstände hinzuweisen. Zweitens: Die Satire soll sich an einer moralischen Norm orientieren und auf eine Verbesserung der Zustände zielen, also nicht von rein destruktiven Einstellungen wie Rachsucht oder Zynismus angetrieben werden. Damit hängt eine dritte Forderung eng zusammen: Die Satire soll moralische Fehler oder Torheiten aufs Korn nehmen, aber nicht Personen wegen angeborener Eigenschaften oder wegen eines unverschuldeten Schicksals verspotten. Eine vierte Forderung schließlich war auch unter Satirikern oft umstritten, nämlich die Forderung, dass Satiren verbreitete Verfehlungen anprangern, aber nicht einzelne Personen als solche attackieren sollten. Tucholsky beantwortete die Frage „Was darf die Satire?“ zwar mit einem provokanten „Alles“, doch tatsächlich entsprach seine satirische Praxis in hohem Maße den traditionellen Forderungen. Aber wenn auch nicht unbedingt bei Tucholsky, so finden sich in der Geschichte der Satire gleichwohl viele Beispiele für Abweichungen von diesen Vorgaben. Gerade die jüngste Entwicklung der Satire wird durch Zeitschriften und Fernsehsendungen geprägt, die ganz programmatisch immer wieder die so definierten Grenzen überschreiten, insbesondere die Grenze zwischen Satire und persönlicher Schmähung. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Zeitschrift Titanic, und auch Böhmermann mit seinem ErdoganGedicht fügt sich in diese Entwicklung ein. Diese jüngsten Tendenzen weisen in historischer Sicht zwar durchaus wichtige Besonderheiten auf, aber zur Geschichte der Satire gehörten von Anfang an nicht nur Bemühungen um eine Selbstbeschränkung, sondern auch Verstöße gegen solche Regeln. So erschien kurz nach dem Tod des römischen Kaisers Claudius im Jahr 54 nach Christus eine Satire, die sich auf sehr pietätlose Weise über den verstorbenen Herrscher lustig machte. In dieser Satire, die wahrscheinlich von dem Dichter und Philosophen Seneca stammt, wird Claudius nach seinem Ableben die Aufnahme unter die Götter verweigert, und so lautet der Titel des Textes nicht: „Die Vergöttlichung des Claudius“, sondern: „Die Verkürbissung des Claudius“.