Widersprüchlich. Was ist Antisemitismus?
- 13.11.2020
- Die Geschichte von Ablehnung, Hass und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen und vielen Gesellschaften von der antiken Judenfeindschaft über den jeweils spezifisch ausgeprägten christlichen und muslimischen Antijudaismus bis zu dem von bürgerlicher Gesellschaft und Nationalismus hervorgebrachten modernen Antisemitismus sehr genau rekonstruiert und differenziert analysiert. Dabei herrscht in Nuancen nicht immer Einigkeit, aber ein breiter Konsens über Grundfragen: so etwa über das Ineinandergreifen der säkularen Reproduktion antijüdischer Ressentiments und des Wandels der Judenfeindschaft über unterschiedliche Kontexte. Unter Antisemitismus versteht die Forschung alle persistenten beziehungsweise latenten Strukturen von feindlichen Einstellungen gegenüber Juden als Juden. Diese sind individuell und kollektiv kulturell verankert und äußern sich in Sprechakten, Handlungen und Gewalt. Die ihren Zielen zugeschriebenen Eigenschaften imaginieren die Akteure dabei stets. Adorno sprach daher vom Antisemitismus als dem ‚Gerücht über die Juden‘. Antisemitismus umfasst den religiös motivierten Antijudaismus, den rassistisch-pseudowissenschaftlichen Antisemitismus, den sekundären Antisemitismus, gerade auch zur Schuldabwehr nach der Shoah, sowie den israelbezogenen Antisemitismus. Der Begriff Antisemitismus ist übrigens von der Selbstbezeichnung einer seinerzeit neuen, rassistischen Ablehnung von Juden am Ende des 19. Jahrhunderts zur verwissenschaftlichen Kategorie für die gegenwärtigen Ausprägungen der Judenfeindschaft geworden und insofern nicht unmittelbar auf frühere Epochen übertragbar. Einig ist sich die Forschung auch, dass es leichter ist, Antisemitismus zu definieren, als in der Praxis eindeutig zu beurteilen, welche Denkmuster, Handlungen und Institutionen antisemitisch sind. Wo seit Jahrhunderten eingeübten Stereotype mobilisiert werden und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden verübt wird, ist der Antisemitismus ganz eindeutig erkennbar. Wo Antisemitismus politisch umstritten ist, etwa bei Kritik an Israel, fällt Eindeutigkeit schwerer. Wirklich? Wie jeder Staat und jede Gesellschaft ist Israel kritisierbar, wenn nach gleichen Maßstäben differenziert und konkret argumentiert, nicht aber ein jüdisches Kollektiv konstruiert und pauschal verurteilt oder die Existenzberechtigung des Staates selbst infrage gestellt wird. Eine solche Kritik gilt es stets auf ihren antisemitischen Gehalt hin zu befragen. Aber wie, von wem, an welchem Ort? Es gibt keinen einfachen Umgang mit Antisemitismus. Im akademischen Diskurs über seine Bestimmung geht es um kritisches und intersubjektiv überprüfbares Argumentieren und Abwägen. Beim medial-politischen Schlagabtausch über den Vorwurf des Antisemitismus geht es rasch um Aneignungen, Meinung und schnelles Urteilen im Kampf um Positionen und Deutungshoheit. In der Alltagspraxis sind wir alle aufgerufen, jeder Form antisemitischen Denkens und Handelns sowie antisemitischer Kultur entschieden entgegenzutreten - aber auch jegliche Instrumentalisierung des Vorwurfs zu reflektieren. Denn wäre eine politische Instrumentalisierung der Gegenwehr gegen Antisemitismus keine Beschädigung der Bekämpfung des Antisemitismus? Erst die unablässige Arbeit, Antisemitismus zu erkennen und zu benennen, öffnet die Chance, die Reproduktion und Radikalisierung von Judenhass zu durchbrechen und mit dem Antisemitismus ein Stück gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu überwinden.