Popmusik für ein Millionenpublikum. Wie lauten die Grundmuster für Superhits?
- 13.11.2020
- Wer viel populäre Musik hört, hat oft den Eindruck, vieles schon einmal gehört zu haben. Tatsächlich weisen viele Hits Ähnlichkeiten auf, oft zum Beispiel gleiche Akkordfolgen. Man könnte meinen, es gibt so etwas wie eine Hitformel. Vielleicht, so meinen manche, könnte es in Zukunft reichen, einen Computer mit dieser Formel zu füttern und heraus käme ein Hit. Eine solche Hitformel, so weit ist die Forschung zurzeit, könnte in etwa so beginnen: Man nehme einen 4/4-Takt mit einem Tempo von 120 Schlägen in der Minute, als harmonische Grundlage eine Folge von nicht mehr als vier Akkorden wie zum Beispiel C-Dur, G-Dur, a-Moll und F-Dur, dazu eine Melodie mit geringem Tonumfang aber vielen Wiederholungen in der Strophe, die dann im Refrain nach oben rückt und dort in einem größeren Bogen verläuft. Dann brauchen wir nur noch einen Text, der ein Gefühl darstellt, mit dem sich viele identifizieren können, und fertig ist Superhit. Doch so einfach ist es leider nicht, denn für einen Hit braucht es viele weitere Zutaten: ein instrumentales Arrangement, den Mix im Studio, ein Musikvideo und vor allem brauchen wir einen Sänger (die meisten Hits wurden bisher von Männern gesungen), dessen Image ideal zu dem Song passt. Die Zahl der Variablen, die zum Erfolg beitragen, wird damit so groß, dass auch Supercomputer ihre Grenzen überschreiten. Auch sollte man nicht vergessen, dass es das Publikum ist, das entscheidet, welcher Song ein Hit wird, und nicht der Komponist oder gar der Computer. Ein Hit muss in der Gegenwart möglichst vielen Menschen gefallen. Funktioniert das aber mit einer Formel, die aus den Hits der Vergangenheit errechnet wurde? Die grundsätzliche Frage ist ja: Warum hören wir eigentlich Musik? Und: Können Musikstücke, die nach Schema F von einem Computer entworfen wurden, diese Bedürfnisse überhaupt erfüllen? Wir wollen zu einem Song tanzen oder träumen und ihn im weitesten Sinne fühlen. Das funktioniert aber nicht, wenn wir seinesgleichen schon in vielen ähnlichen Versionen gehört haben. Der Song, der uns gefallen soll, muss uns zwangsläufig auch etwas Neues bringen. Zu neuartig darf der Song zwar nicht sein. Er hat ja nicht viel Zeit, sondern muss sich in dreieinhalb Minuten in unser Herz schleichen. Wir müssen ihn sofort verstehen können, und er muss sofort im Gedächtnis haften bleiben. Ein Hit ist daher immer eine ideale Balance aus Vertrautem und Neuem. Vertraut sind meist Taktart, Tempo, Akkordschema und formaler Aufbau: Man soll ihn ja sofort mitsingen können, daher muss er vorhersehbar sein. Die Originalität wird dagegen oft mit musikalischen Mitteln produziert, die sich um die Person des Sängers oder der Sängerin drehen: mit dem individuellen Sound der Stimme zum Beispiel. Wir möchten Popstars als individuelle Menschen wahrnehmen, mit denen zusammen wir weinen, lieben oder feiern wollen. Computergenerierte Avatare wie Hatsune Miku oder die acht Jahre nach ihrem Tod als Hologramm auferstandene Whitney Houston haben auf der Bühne Erfolge, weil sie neuartig sind, oder – wie Whitney Houston – viele alte Fans haben. Sollten allerdings eines Tages Songs und Popstars ganz von künstlicher Intelligenz produziert werden, wird es, so vermute ich, dem menschlichen Publikum sehr schnell zu dumm. Warum sollte ich einem Computer glauben, wenn er „Love me tender“ singt? Eine solche künstlich intelligente Musik würde am Ende doch nur Computern gefallen.