Rilke, Benn, Grünbein. Was bedeutet zeitgemäßes Lernen im Deutschunterricht?
- 12.11.2021
- Schulische Bildungsvermittlung ist insbesondere als Folge der Corona-Pandemie – jedoch auch schon lange davor – in den Fokus geraten. Offenbar stimmt hier einiges nicht mehr, glaubt man Ergebnissen nationaler Bildungspanels und Aussagen von Ausbildungsinstitutionen, die Schulabgängerinnen und Schulabgänger übernehmen und auf die Einhaltung von Mindeststandards seitens der Schule angewiesen sind. Mit Bezug auf den Deutschunterricht mehren sich Hinweise beispielsweise auf zunehmende Probleme im Umgang mit schriftsprachlicher Darstellung bei Schülerinnen und Schüler oder auf weiterhin nachlassende Lesekompetenzen auf allen Bildungsstufen. Die Leserfrage verstehe ich so, dass dies mit dem „Zeitgemäßen“ zu tun haben könnte, eventuell also damit, dass Dichter wie Durs Grünbein – als Beispiel für einen zeitgenössischen Lyriker – vielleicht zu wenig gelesen werden. Was aber ist „zeitgemäß“ im Unterricht an Schulen? Digitalität, wie man nun allerorten hört und liest? Angesichts der Rasanz technologischer Entwicklungen bereitet dieser Umstand gewaltige Probleme in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern: Bereits mit Abschluss des Studiums, oft schon mit Abschluss des Semesters sind Technologien, Software und Apps, die man als Tools einsetzt, veraltet. Wie lange wird es angesichts der Leistungsfähigkeit von Stimmerkennungssoftware überhaupt noch notwendig sein, in allen Schulformen Lesen und Schreiben zu vermitteln? Mal ehrlich: Ist eine Informationsentnahme aus dem unendlichen Universum des Internets ohne die Zuhilfenahme von Schrift bis zu einem gewissen Grade nicht heute schon einfacher? Schreiben Sie noch? Immerhin gibt es mittlerweile in der deutschdidaktischen Diskussion nicht wenige Stimmen, die angesichts solcher Entwicklungen das Fach Deutsch nach dem Vorbild anderer Länder ganz neu definieren wollen: „Medienkunde“ könnte es heißen. (Mutter)Sprachvermittlung soll weiterhin Bestand haben, Literatur jedoch sei verzichtbar oder könnte – nach dem Vorbild skandinavischer Länder – nur noch als Wahlfach existieren. Auch hier müssen wir uns ehrlicherweise eingestehen: Die Entwicklungen in der Praxis sind diesbezüglich weit fortgeschritten. An Grund-, Haupt-, Real- und Berufsschulen existiert ein literaturbezogener Unterricht nur noch als Rumpf, oft gar nicht mehr, oder ist abgelöst worden durch Software wie das Programm „Antolin“, mit dem alle Eltern sicherlich schon leidvolle Erfahrungen gesammelt haben. Literatur älterer Epochen – und damit meine ich Literatur vor 1990 – findet meist nur noch in der gymnasialen Oberstufe statt. Ist dies nun die „Zeitgemäßheit“, von der oben die Rede war? Ich denke nein. Bildung, so wie sie in unserer Tradition definiert ist, ist eine überzeitliche Angelegenheit der Förderung und Entwicklung von Persönlichkeit und Charakter eines Menschen, daher endet sie auch nicht. Sie erschöpft sich keinesfalls in der Vermittlung von „zeitgemäßem“ Wissen oder gar von „Kompetenzen“ – beides benötigt sie allenfalls als Voraussetzung für die pädagogische Arbeit mit dem jungen Menschen. Und gerade hier wird Literatur wichtig: Über das Eintauchen in andere Gedanken und Gefühle, über das Probehandeln in anderen Welten verstehen wir uns selbst und unsere Welt. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob wir das mit Goethe oder Grünbein, mit Papier oder Pad tun.