Performanz. Kann Sprache Wirklichkeit schaffen?
- Center of Early Childhood Development and Education Research
- FB 07 – Sprach- und Literaturwissenschaft
- Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien
- 12.11.2021
- Die Kurzantwort auf die Frage lautet: Ja, natürlich kann sie das und tut es unentwegt – im Positiven wie im Negativen. Sprache kann gleichermaßen Grauenvolles anrichten wie Menschen vereinen; erst vor wenigen Tagen – am 9. November – haben wir uns beides wieder in Erinnerung gerufen: An der Reichspogromnacht war die Propaganda maßgeblich beteiligt, der Mauerfall wurde unter anderem von den skandierenden Montagsdemonstranten eingeläutet. Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wirklichkeit schafft Sprache, wie wir zum Beispiel an Wortneuschöpfungen etwa in der Werbe- oder Jugendsprache („Datenflat“, „Digga“), Sprachwandel, Tabuausdrücken etc. beobachten können. Das zentrale Argument für gendergerechte Sprache beispielsweise ist ja, dass Frauen durch das generische Maskulinum zwar mitgemeint sein mögen, aber nicht wirklich sichtbar sind. Durch die Verwendung femininer Formen treten sie in der Vorstellung der Kommunikationsteilnehmerinnen nachgewiesenermaßen in den Vordergrund, und dies beeinflusst letztlich die sozialen Verhältnisse. Schauen wir uns die soziale Funktionsweise von Sprache ein wenig genauer an: Wenn wir sprechen, tun wir das in der Regel, um zu kommunizieren, wir interagieren mithilfe der Sprache. Dass dies überhaupt möglich ist, liegt daran, dass sich Sprachgemeinschaften auf je eigene Zeichensysteme geeinigt haben, bestehend unter anderem aus Lauten und Wörtern sowie Regeln zu ihrer Verknüpfung, wodurch Sätze und Texte entstehen. Die Zeichen selbst sind dabei völlig willkürlich und haben mit der Wirklichkeit erst einmal nichts zu tun. Aufgrund dieser Eigenschaften natürlicher Sprachen kann theoretisch jeder Sachverhalt, jeder Gedanke und jedes Thema versprachlicht werden. Kommunikation ist dabei aber sehr viel mehr als die Übermittlung von Informationen von einer Sprecherin an den Zuhörer oder vom Schreiber an die Leserin. Mittels meiner Sprache kann ich an andere Personen Appelle richten oder Veränderungen herbeiführen, und zwar mithilfe performativer Äußerungen. Darunter versteht die Linguistik solche Äußerungen, die konkrete Handlungen verbalisieren: Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau; ich verurteile Sie zu einer Bewährungsstrafe; ich bitte um Entschuldigung. Oft sind performative Äußerungen durch ein Zusammenspiel aus formelhafter Sprache, Betonung, Wortschatz und Satzbau gekennzeichnet, die Wahl der richtigen Zeichen spielt hier also eine herausragende Rolle. Als Interaktionsmedium wirkt Sprache somit ganz erheblich auf die kognitive, soziale und emotionale Wirklichkeit. Ein weiterer interessanter Aspekt ist der, dass sich Sprache und Denken gegenseitig beeinflussen. So ist es kein Zufall, dass naturnah lebende Völker oft ein vergleichsweise primitives Zahlen- und Rechensystem besitzen, dagegen Stoffliches, Farben oder Geräusche begrifflich komplex ausdifferenzieren, man denke an das plakative Beispiel der 50 Wörter für Schnee bei den Inuit. Was schafft hier was? Die Wirklichkeit die Sprache oder umgekehrt? Die Frage, ob Sprache die Wirklichkeit beeinflussen, sie verändern oder auch schaffen kann, bezieht sich aber wohl nicht in erster Linie auf die physische Welt – Sprache schafft ja keine Landschaften und baut keine Städte oder Maschinen –, obgleich sie auch hier für die Verständigung gebraucht wird, wie es etwa die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel erzählt, der ja bekanntlich aufgrund göttlicher Außerkraftsetzung einer funktionierenden Kommunikation ziemlich in die Hose ging.