Völkerrecht – Können autonome Regionen sich von ihrem Mutterstaat abspalten?
- 22.11.2022
- Die aggressive Expansion Russlands wirft durch die Art und Weise, wie sie von Moskau inszeniert wird, die Frage nach den völkerrechtlichen Regeln über die Abspaltung einzelner Gebiete von einem souveränen Staat auf. Denn das russische Vorgehen schloss im März 2014 auf der Krim und im September 2022 in der Ostukraine die Abhaltung sogenannter Referenden ein, in denen die Bevölkerung der zuvor unter russische Kontrolle gebrachten Gebiete zum Anschluss an Russland befragt wurde. Darin kam jeweils die Vorstellung zum Ausdruck, dass durch ein solches Votum die Gebietseinverleibung völkerrechtlich legitimiert und der durch die Gewaltanwendung verursachte völkerrechtliche Makel vielleicht sogar getilgt würde. Diese Vorstellung ist aus verschiedenen Gründen falsch. Vor allem kennt das geltende Völkerrecht grundsätzlich keine eigenen Rechte von Gebietsteilen bestehender Staaten oder ihrer Bevölkerung, also auch kein Recht zur Abspaltung aus einem bestehenden Staatsverband. Das gilt unabhängig davon, ob der betreffende Gebietsteil zuvor innerstaatlich als selbständige Gebietseinheit (autonome Region, Provinz, Bundesland) organisiert war oder nicht, also gleichermaßen für die Krim und die Gebiete in der Ostukraine, für Abchasien, Katalonien und Schottland. Das Völkerrecht kennt nur eine einzige Regel, die in extremen Ausnahmefällen die Loslösung von einem bestehenden Staat gegen dessen Willen stützen kann, und das ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dieses Recht ist als kollektives Menschenrecht in Art. 1 der UN-Menschenrechtspakte (1966) niedergelegt und darüber hinaus als Völkergewohnheitsrecht universell anerkannt. Es steht einem »Volk« zu, also einer Menschengruppe, die sich objektiv durch gemeinsame Merkmale von anderen Gruppen unterscheidet und subjektiv als eine distinkte Gemeinschaft identifiziert. Diesem Volk ist völkerrechtlich die »Selbstbestimmung« garantiert, also die grundsätzlich freie Bestimmung des eigenen politischen Status. Das impliziert jedenfalls die Freiheit von kolonialer Fremdherrschaft, im Übrigen aber vor allem das Recht darauf, als besondere Gruppe in einem Staatsverband anerkannt und behandelt zu werden. Auch die Gebietsbezogenheit dürfte von der Gewährleistung umfasst sein, also quasi ein »Recht auf Heimat«, das Bevölkerungstransfer und »ethnische Säuberung« verbietet. Unter normalen Umständen umfasst das Selbstbestimmungsrecht aber kein Recht auf Abspaltung oder auf den eigenen Staat, denn die Gewährleistung ist in Einklang zu bringen mit der territorialen Integrität der Staaten und der Stabilität von Staatsgrenzen, zwei ebenfalls wichtigen Rechtsgütern des allgemeinen Völkerrechts. Nach der Staatenpraxis der letzten Jahrzehnte kann das Recht auf Selbstbestimmung nur dann in einen legitimen Anspruch auf Trennung vom Staat münden, wenn seine grundlegende Gewährleistung im bestehenden Staatsverband durchweg missachtet wird. Wenn das Recht eines »Volkes« darauf, eine besondere Gruppe zu sein, nicht mehr anerkannt, ja gewaltsam unterdrückt wird, kann seine »Selbstbestimmung« unter Umständen nur noch außerhalb dieses Staatsverbandes verwirklicht werden. Mit aller Vorsicht kann die Unabhängigwerdung von Timor-Leste (2002) und des Kosovo (2008) auf diese Weise völkerrechtlich grundiert werden. Nur ganz selten werden die Voraussetzungen einer Abspaltung aus Gründen der völkerrechtlich garantierten Selbstbestimmung aber tatsächlich vorliegen. Schon gar nicht geht es um Selbstbestimmung, wenn die Bevölkerung eines eroberten Gebiets mit vorgehaltener Waffe zu einer Abstimmung motiviert wird, die nach der Eingliederung in den Staat des Eroberers fragt. Dies bleibt eine verbotene Aggression, ob man die Menschen fragt oder nicht.