Spannend, originell, authentisch? Was ist "gute" Literatur?
- 13.11.2009
- Die Frage nennt mögliche Kriterien für gute Literatur, und die Kriterien scheinen gut gewählt. Wichtige Aspekte kommen darin zu Wort: Spannung meint die Komposition eines Werkes, Originalität das Unverwechselbare und Individuelle daran, Authentizität hat mit einer Wahrheit zu tun, die wir von der Literatur erhoffen. Doch bei genauerem Hinsehen reichen die Kriterien nicht aus, denn auch Trash kann spannend sein, Verschrobenes originell, eine fade Lebensbeichte authentisch. Ich verschiebe also die Frage etwas und möchte mit Ihnen klären: Welche Bedeutung haben Kriterien dieser Art für ein literarisches Urteil? Ich frage nicht: Was macht gute Literatur aus? Sondern ich frage nach dem Wie der Urteilsfindung. Wie komme ich zu einem Urteil? Hilfreich ist eine Unterscheidung. Auf der einen Seite gibt es Regeln, mit denen der Dichter arbeitet. Regeln kann man lernen. Der Autor beziehungsweise die Autorin beherrscht etwa die Möglichkeiten, einen Roman zu schreiben. Er kennt die Formen: die IchPerspektive, das personale Er (dabei blickt der Autor durch die Figuren auf die Welt, als würde er in deren Kopf, Herz und Unbewußtes steigen), und er kennt das auktoriale Er, in dem sich der Erzähler als allwissend ausgibt. Neben das kleine ›er‹ tritt, wenn man so will, das große ›Er‹. Wenn es nun auf der einen Seite Regeln gibt, so auf der anderen Seite die Urteilskraft. Das ist ein wichtiger Begriff von Kant. Urteilskraft heißt: ich wende die Regeln an, doch für die Anwendung der Regeln gibt es selbst wiederum keine Regeln. Die praktische Anwendung ist daher Sache der Urteilskraft. Oft sieht man Romanen schon im ersten Satz an, ob sie etwas taugen. Ich gebe ein Beispiel. Einer der berühmtesten Romananfänge in der deutschen Literatur lautet: »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.« So beginnt Franz Kafkas Roman ›Der Process‹. Achten Sie auf das ›mußte‹ in: »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben«: Mit dieser Formulierung werden zwei Möglichkeiten eröffnet, die den ganzen Roman prägen. Ist das ein Gedanke von Josef K.? Dann wäre die Erzählform die Form des kleinen, personalen ›er‹. Oder spricht hier eine Autorität über einen Vorgang, von dem Josef K. keine Ahnung hat? Ein großes ›Er‹? Das ja, aber dieser Erzähler ist nicht allwissend (sonst hätte er sagen können ›Jemand hatte Josef K. verleumdet ...‹). Auch der große ER steht vor einem Rätsel. Kafka findet also sprachlich einen Ausdruck, der einen Gegensatz einführt und – darauf kommt es an – auf sehr genaue Weise auflöst. Beide sind in einer Lage, die man ›kafkaesk‹ nennt. Dabei hofft der große ER weiterzukommen, wenn er seine Figur beobachtet. Vergeblich natürlich. Der erste Satz des Romans ist also gute Literatur, weil er durch einen besonderen Gebrauch erzählerischer Regeln etwas Unauflösliches geschaffen hat. Der Leser wird in der Folge des Romans seine Leseerfahrung und seinen ganzen Verstand aufbringen, um den Roman gegen seinen ersten Satz und gegen die angedeutete Hilflosigkeit der beiden Erzähler zu verstehen. Die Urteilskraft ist nicht zu ersetzen, aber sie lässt sich trainieren. Darin erkenne ich eine zentrale Aufgabe der Literaturwissenschaft: Lektüreerfahrung und hartnäckiges Nachdenken darüber, was gerade wieder mit den Regeln, die man gelernt hat, geschehen ist. Nach einiger Zeit lässt sich erkennen, ob die Art, in der ein Werk die Regeln, etwa Spannung zu erzeugen, literarisch handhabt. Das ist Kafka mit seinem ersten Satz gelungen.