Auf dem Laufsteg. Gibt es Zeit- und Modetrends in der Literatur?
- 11.11.2011
- Literatur spiegelt immer Werte, Konflikte, Ideen, Ereignisse, Personen, kurz: die Phänomene der Zeit und geistigen Atmosphäre wider, in der die Autoren leben. Schon die griechische Tragödie vor 2500 Jahren war ein Festspieltheater und erfüllte damit eine staatstragende Funktion; ihr Inhalt, die Heldensage, repräsentierte das heroischtragische Lebensgefühl der in Athen herrschenden Aristokratie. Lessings Thema war der Kampf gegen die – nicht nur – religiösen Vorurteile und gegen die politische Macht der Kirchen seiner Zeit; Thomas Manns Buddenbrooks schildert den Verfall einer großbürgerlichen Familie und reflektiert damit den von ihm selbst erlebten Niedergang des Deutschen Kaiserreiches. Schriftsteller, die sich überwiegend im Einklang mit den Verhältnissen ihrer Gesellschaft befinden oder bei denen der materielle Erfolg im Vordergrund steht, neigen gewiss stärker dazu, Mode- und Zeittrends zu folgen, um ihre wenig auf Veränderung gerichtete Weltsicht zu formulieren, den Lesern zu gefallen oder möglichst viele Bücher zu verkaufen. Mode bezeichnet etwas, das dem herrschenden Geschmack, den gängigen Überzeugungen entspricht, das, was üblich, was zu einer bestimmten Zeit »normal« ist. Wer also dem Modetrend distanzlos folgt, bleibt innerhalb des Erwartungshorizonts seiner Leser – was man letztlich als unkritische Haltung bezeichnen kann. Die meisten bedeutenden Schriftsteller seit der Aufklärung wollen das Gegenteil, nämlich Normen hinterfragen, Vorurteile offenlegen, in tiefere Regionen der Weltwahrnehmung vordringen – damit überfordern sie viele ihrer Zeitgenossen oft genug oder verstören sie gar. Sie sehen sich eher als skeptische Beobachter, die auf oft unbequeme Weise Themen zur Sprache bringen, die die Menschen immer schon wesentlich bedrängen: Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe, Krieg, Leiden und Tod, aber auch das zu allen Zeiten problematische Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv. Denn »Literatur ist eine langfristige Operation« (Enzensberger). Solche »überzeitlichen« Fragen bearbeiten sie häufig anhand aktueller Anlässe. Ein Beispiel: Günter Grass hat mit seiner Blechtrommel (1959) zweifellos ein »Modethema« seiner Generation aufgegriffen, nämlich die nationalsozialistische Herrschaft und den Zweiten Weltkrieg. Er hat dies aber in einer inhaltlich wie formal provozierenden, neue Sichtweisen eröffnenden Art und Weise getan, indem er jene Zeit aus dem Blickwinkel und der Gedankenwelt eines skurrilen Außenseiters (re-)konstruierte. Ein Jahr zuvor, 1958, hingegen war Heinz G. Konsaliks überaus erfolgreicher Kriegsroman »Der Arzt von Stalingrad« erschienen, der die Mär von der »sauberen« Wehrmacht und der deutschen kulturellen Überlegenheit über die sowjetischen Völker bediente und damit auf eine konservative Leserschaft abzielte, die sich nicht selbstkritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen mochte. Fazit: Auch in der Literatur sind Zeit- und Modetrends auszumachen. Worauf es ankommt, ist die Art und Weise, wie die Autoren damit umgehen. Was die Zeiten als bedeutender literarischer Text überdauert, entscheiden immer nur die künftigen Generationen.