Justizopfer. Warum sitzen Hunderte für Taten in Haft, die sie nicht begangen haben?
- 23.11.2012
- Fehlurteile darf es nicht geben, Fehlurteile wird es aber immer geben. Die Ursachen dafür sind weitgehend nicht im Gesetz begründet, sondern beruhen auf menschlichem Verhalten. Das Strafverfahren kennt neben dem Beschuldigten viele Beteiligte: Polizisten, Zeugen, Sachverständige, Staatsanwälte, Richter und Strafverteidiger – sie alle können Fehler begehen. Ein Problem stellen Zeugenaussagen dar. Obwohl wir wissen, wie begrenzt die menschliche Wahrnehmung und ihre spätere Abrufbarkeit sind, vertrauen die Strafverfolgungsbehörden in großem Maße den Aussagen von Zeugen. Fehler liegen hier nicht allein in dem begrenzten Beweiswert, sondern auch in der fehlerhaften Gestaltung der Vernehmungssituation begründet: Anders als gesetzlich vorgesehen, lassen Polizisten oder Richter den Zeugen seine Erinnerungen nicht im Zusammenhang schildern, sondern stellen kleinteilig Fragen. Bei potentiellen Belastungszeugen wird eher nach dem gefragt, was den Beschuldigten belastet, nicht aber in gleichem Maße nach Entlastendem. Es besteht die Gefahr, dass der Vernehmende sich durch seine Voreinschätzung lenken lässt. So kann für den Polizisten der Grat zwischen kriminalistischer Erfahrung und gedanklicher Vorverurteilung schmal sein. Richter erliegen der Versuchung, sich an den Vernehmungsprotokollen der Polizei zu orientieren, anstatt die Zeugenvernehmung unbefangen durchzuführen. Staatsanwälte und Polizisten stellen ihre gewonnene Einschätzung nicht in Frage, sondern verfolgen die eingeschlagene Richtung schneidig weiter. Der Gesetzgeber könnte einen Teil der genannten Gefahren verringern, indem er die Videoaufzeichnung von Zeugenaussagen vorschreibt. Diese Probleme bestehen nicht nur für die Vernehmung von Zeugen, sondern auch für die des Beschuldigten. So kommen in der Realität leider Fälle vor, in denen ein Beschuldigter ohne Beistand vernommen und in Richtung Geständnis gedrängt wird. Doch nicht nur Vernehmungen sind fehleranfällig, sondern auch Sachverständigengutachten. Gerade bei der Aufarbeitung schwerer Straftaten kommt ihnen eine deutlich höhere Bedeutung zu als für die Alltagskriminalität. Während an jedem Strafverfahren mehrere Juristen mitarbeiten, die sich ergänzen und kontrollieren, ist es häufig nur ein einziger Sachverständiger, der sich zur Deutung von Tatspuren, der Glaubwürdigkeit von Zeugen oder der Schuldfähigkeit des Angeklagten äußert. Richter und Staatsanwälte verfügen nicht über die nötigen Kenntnisse in der Fachdisziplin des Sachverständigen. Die Chancen, einen Fehler im Gutachten zu erkennen, sind ohnehin gering – und werden noch geringer, wenn das Gericht dem Gutachter blind vertraut. Dennoch: Die meisten Verurteilungen erfolgen zu Recht. Wie hoch der Anteil von Fehlurteilen ist, wissen wir nicht. Auch wenn es sie immer geben wird – jedes Fehlurteil ist eines zu viel.