Verris. Welchen Einfluss haben Literaturkritiker?
- 15.11.2013
- Die Frage »Verriss. Welchen Einfluss haben Literaturkritiker?« besitzt viele Seiten, denn sie läßt noch offen, worauf die Literaturkritiker mit ihren Verrissen Einfluss haben sollen. Ich möchte mich zunächst dem Naheliegenden zuwenden: dem Einfluss auf den ökonomischen Erfolg eines literarischen Werks. Verrissene Bücher rangieren in einer Einflusshierarchie weit oben: Das Schlimmste ist das Schweigen, dann kommt das Lob – es ist der Normalfall und findet daher nur als Brechen des Schweigens Beachtung. Erst dann kommt der Verriss – er gilt Autoren, bei denen er sich lohnt. Der Verriss ist also eine Form der Anerkennung und insofern ist das Lob im Verriss enthalten. Schließlich kann nur noch das von einem Feuilleton orchestrierte Lob: die Kampagne den Verriss überbieten. Doch eigentlich geht es bei der gestellten Frage darum, ob und wie ein gescholtenes Werk im literaturgeschichtlichen Gedächtnis aufbewahrt wird. Für die Nachhaltigkeitsprüfung müssen wir verschiedene Rollen im Auge behalten und ihr Verhältnis studieren: Der Literaturkritiker steht neben dem Autor (der den Kollegen verreißt und so für das eigene Werk produktiv nutzt), und gegen beide behauptet sich der Literaturwissenschaftler, der in den Verrissen – sowohl des Kritikers als auch des Dichters – den literarischen Gehalt eruieren muss, der trotzdem die Zeiten überdauern kann. Damit gelange ich hinter die Frage nach dem Einfluss des Verrisses. In ihm zeigt sich ein Vermögen, das alle drei verbindet, nämlich im Verstehen zu urteilen. Hören wir kurz in das »Literarische Quartett« hinein, ein von Marcel Reich-Ranicki begründetes, für die öffentliche Literaturkritik exemplarisches Fernsehformat. Der exemplarische Verriss fand dort 1995 statt, als es um »Ein weites Feld« von Günter Grass ging, um den Roman, der die Wiedervereinigung behandelt. Was sagen die Literaturkritiker der Runde? Argumentieren sie? Reich-Ranicki: »Nein, ich kann etwas, was tot ist, nicht leben lassen!« Das ist ein Totalurteil, ohne Begründung; eine erste Begründung zu geben, wird Aufgabe der Gesprächspartner sein: Helmut Karasek versucht es: »Es wird gequasselt und nicht geredet. Die Hauptfiguren verfügen über kein Leben, über keinen Unterleib, über keinen Kopf, über nichts.« Sigrid Löffler kommt kaum zu Wort, denn sie will das Urteil Reich-Ranickis mit ersten erzählanalytischen Hinweisen korrigieren. Reich-Ranicki zu ihr: »Liebe, was reden Sie? Denken Sie doch an Thomas Mann!« Das Urteil Reich-Ranickis über Grassens Roman ist seither legendär. Selbst kein Verriss, enthielt das empörte Urteil implizit die Argumente, von denen die Debatte einige bereits formulierte. Die Ratio des Affekts wurde seither im Laufe der Zeit immer deutlicher, der Affekt besaß insofern prognostische Qualität. Ich denke, es ging um das zehn Jahre später von Grass eingestandene eigene verdrängte NS-Politische, als habe die Verdrängung in den Augen Reich-Ranickis die ästhetische Qualität des Wiedervereinigungs Romans ruiniert. So gilt: Man müsste heute den größten Roman von Günter Grass, »Die Blechtrommel«, neu lesen. Denn das Urteil des Kritikers nachträglich zu entfalten, gehört zu den Aufgaben einer Literaturwissenschaft, die selbst mit Lust urteilsfähig ist.