Google und das Recht auf Vergessen. Was kann gelöscht werden, was muss im Netz auffindbar bleiben?
- 14.11.2014
- »Damnatio memoriae« – im Mittelalter war diese Verurteilung zum Vergessenwerden noch eine der schwersten Strafen, die die Gemeinschaft einem Individuum auferlegen konnte. Der Betroffene sollte aufgrund der Tragweite seiner Taten auf ewig aus dem menschlichen Gedächtnis verschwinden und die Spuren seines Handelns beseitigt werden. Heute haben sich die Umstände so weit geändert, dass wir uns in der Regel keinesfalls vor dem Vergessenwerden fürchten, sondern im Gegenteil, danach Streben vergessen zu werden. Das Internet vergisst nie. Alles, was man einmal eingetragen hat oder was über einen geschrieben worden ist, kann auch nach Jahren noch ohne großen Aufwand gefunden werden. Unser Privatleben wird für alle zugänglich gemacht. Längst von uns vergessene Ereignisse, gute wie schmerzhafte, können immer wieder entdeckt und publik gemacht werden. Das kann in einem völlig neuen Kontext geschehen. Die Zivilisation verändert sich – wir sind einer ständigen Überwachung ausgesetzt, an der wir uns aber auch aktiv beteiligen und unaufhaltsam neuen Stoff liefern. Die einst ins Netz gestellten Informationen können jetzt mit Hilfe von Suchmaschinen wie Google schnell gefunden, aber auch neu verbunden werden. In dieser neu geschaffenen Welt macht jetzt ein neues Recht Karriere, das allmählich sogar zu einem Menschenrecht emporgehoben wird: das Recht auf Vergessen. Dieses Recht der Europäischen Union gewährt uns das Recht auf das Verlangen unter anderem der Löschung von Daten, die sogar rechtsmäßig erhoben und gespeichert worden sein können, wenn sie nicht mehr den Zwecken dienen, für die sie erhoben oder weiterverarbeitet worden sind. Der Europäische Gerichtshof hatte in einem vor Kurzem ergangenen Urteil (C 131/12 Google Spain SL und Google Inc.) die Grenzen des Rechts auf Vergessen aber erneut zu definieren: Betrifft die Pflicht zur Löschung bestimmter Informationen auch einen Betreiber von Suchmaschinen – wie zum Beispiel die bekannte Suchmaschine Google? Die Frage ist kompliziert, weil Google die gesuchten Informationen nur verbindet und technisch gesehen nur vorübergehend speichert. Ist Google somit auch der »Verantwortliche«, der die Daten entfernen muss? Eine positive Antwort auf diese Frage ist aus dem Grunde heikel, weil Google hierdurch zur Verfälschung der Suchergebnisse gezwungen wird: Obwohl bestimmte Informationen in den durchsuchten Dateien weiter bestehen und sogar rechtmäßig sind, könnte das Ergebnis der Suche sie nicht offenlegen. Google verteidigte sich gegen die Auferlegung einer solchen Pflicht mit dem Argument, dass der Konzern ausschließlich die technische Ausrüstung zur Verfügung stelle und in Bezug auf die gefundenen Informationen völlig neutral bleibe. Nur derjenige, der diese Daten ursprünglich aufbewahre, solle nach dieser Auffassung zur Entfernung der Daten gezwungen werden können. Der EuGH aber hat diese Auffassung nicht geteilt. Die betroffene Person kann nach dieser Entscheidung auch von Google (sowie von allen Betreibern digitaler Suchmaschinen) verlangen, die Algorithmen so zu verändern, dass bestimmte Daten nicht mehr auffindbar sind. Die breite Präsenz der Suchmaschinen in der Praxis und ihr dadurch hervorgerufener Einfluss auf die Privatsphäre liefern nach der Entscheidung des EuGH die Begründung dafür, den Betreiber zum Adressaten der Pflicht zur Wahrung des Rechts auf Vergessen zu machen. Die Folgen dieser Entscheidung werden uns alle bei der Abwägung der Informationsfreiheit mit dem Schutz der Privatsphäre lange beschäftigen, weil unsere alte Rechtsordnung mit der technischen Entwicklung immer weniger Schritt halten kann.