Herta Müller statt Potter-Autorin Joanne Rowling. Welche Maßstäbe gelten für einen Literaturnobelpreis?
- 13.11.2015
- Herta Müller floh 1987 vor der rumänischen Diktatur nach Berlin. Im Jahr 2009 schrieb sie den Roman ‚Atemschaukel‘, der den Leiden ihres Freundes und großen Lyrikers Oskar Pastior Ausdruck gibt. Pastior war, wie viele deutsche Rumänen, nach 1945 Gefangener in einem sowjetischen Arbeitslager. Davon handelt das Buch ‚Atemschaukel‘, für das Müller im Jahr 2009 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Warum hat Müller gegenüber Joanne K. Rowling den Vorzug erhalten, die seit 1997, als ‚Harry Potter und der Stein der Weisen‘ erschien, sieben Harry Potter-Romane mit weltweitem Erfolg veröffentlichte? Ich vergleiche zwei Passagen. In der ‚Atemschaukel‘ versucht der Held beim Kohleschaufeln mit seinem Hunger zurechtzukommen, indem er den Hunger der Arbeit unterstellt. Seine Schaufel hat die Form eines Herzens: „Ich bräuchte die Herzschaufel nicht. Aber mein Hunger ist auf sie angewiesen. Ich wünschte, die Herzschaufel wäre mein Werkzeug. Aber sie ist mein Herr. Das Werkzeug bin ich. Sie herrscht, und ich unterwerfe mich […] sie sorgt dafür, dass sich das Schaufeln vor den Hunger schiebt. […] Die Herzschaufel bemerkt sofort, wenn ich nicht ganz bei ihr bin. Dann schnürt eine dünne Panik mir den Hals zu. […] und der Hungerengel hängt sich ganz in meinen Mund hinein, an mein Gaumensegel. Es ist seine Waage. […] Es lässt meinen Atem schaukeln. Die Atemschaukel ist ein Delirium und was für eins.“ Die Wörter gewinnen eine neue Bedeutung. Herzschaufel, Hungerengel, Atemschaukel. Müller schreibt auf befremdliche Weise über die Grenzen der Erfahrung. Bei Rowling ist das völlig anders. Sie erzählt, was in der menschlichen Erfahrung unmöglich ist, auf gewöhnliche Weise. Harry sieht im Zauberspiegel erstmals seine Eltern: „Nun, da von Filch und Snape nichts mehr zu hören war, schwand Harrys Panik und er näherte sich dem Spiegel, um sich darin zu sehen und doch nichts zu sehen. Er trat vor den Spiegel. Er musste seine Hände vor den Mund schlagen, um nicht zu schreien [...] er hatte eine ganze Ansammlung von Menschen gesehen, die direkt hinter ihm standen.“ Der Unterschied liegt also darin, dass im einen Roman die Erfahrung in die Sprache eingeht, im anderen nicht. Der Unterschied liegt im Literarischen. Das Literarische ist nun nicht notwendig das Kriterium der Schwedischen Akademie, die den Nobelpreis vergibt. Im Vordergrund steht der Geschmack ihrer achtzehn Mitglieder. Der Geschmack ist ihre Form, sich untereinander zu verständigen. Dass der Geschmack sich ständig wandelt, zeigt die Geschichte der Nobelpreisentscheidungen. Er ist zugleich nötig, um das Testament von Alfred Nobel (1895) und das Hauptwort darin auszulegen, das Wort „idealisk“ als Kriterium für die Dichtung, die auszuzeichnen sei. Anfänglich wurde das Wort, dem Anarchisten Nobel folgend, als ‚anarchisch‘ ausgelegt, bis 1945 als ‚konservativ schön‘, dann als ‚bahnbrechend‘. Glücklicherweise drängt sich immer wieder das genuin Literarische vor den Geschmack. Um das Literarische zu erkennen, benötigt man Geschmack, aber auch die Fähigkeit, die Größe eines einzelnen Werks zu erkennen, fast spontan. Wie eben für die ‚Atemschaukel‘.