Von der Expansion zur Krise. Zerfällt Europa?
- 11.11.2016
- Die knappe Entscheidung im britischen Referendum zugunsten eines Austritts hat die EU in eine Krise gestürzt. Die negativen ökonomischen und rechtlichen Konsequenzen werden allerdings erst allmählich deutlich, nachdem sie in der öffentlichen Diskussion in Großbritannien kaum eine Rolle gespielt haben. Insbesondere droht dem Land der Verlust aller wirtschaftlichen Vorteile, die sich aus der Mitgliedschaft in der EU ergeben. Deshalb ist es durchaus unklar, ob die britische Regierung das Ergebnis der Abstimmung nicht noch einmal infrage stellen wird. Da auch in vielen anderen Mitgliedstaaten die nationalistischen Kräfte stärker werden, wird befürchtet, dass die Europäische Union zerfallen könnte. Die Erinnerung an die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs ist so weit verblasst, dass die friedensstiftende Funktion der europäischen Integration heute kaum noch politische Strahlkraft hat. Dagegen sind die enormen wirtschaftlichen Vorteile, die einerseits mit dem gemeinsamen Binnenmarkt, andererseits mit den Umverteilungsmechanismen zugunsten der ärmeren Länder verbunden sind, den meisten Regierungen so wichtig, dass weitere Austritte oder sogar eine Auflösung der Union äußerst unwahrscheinlich sind. So missachtet etwa die aktuelle polnische Regierung zwar in eklatanter Weise europäische Rechtsstandards, die Mitgliedschaft in der EU hat sie aber nie in Frage gestellt. Es kommt nun darauf an, ob die 27 verbleibenden Mitgliedstaaten die Kraft finden, die zweifelsohne bestehenden Strukturprobleme der EU anzugehen. Das wohl gravierendste Defizit ist: Es fehlt an einer effektiven wirtschafts- und finanzpolitischen Koordination, die zur Stabilisierung des Euro dringend erforderlich ist, da man sie auf Dauer nicht allein der Europäischen Zentralbank überlassen darf. Dies würde allerdings bedeuten, dass die Institutionen der EU einen Einfluss auf die Arbeitsmarkt-, Sozial- und Steuerpolitik aller Mitgliedstaaten zumindest der Eurozone bekommen, wie er bisher nur gegenüber den Schuldnerstaaten bestand. Dann müsste auch die Bundesrepublik bereit sein, sich entsprechenden europäischen Vorgaben zu unterwerfen. Doch welche Institutionen sind für eine solche verstärkte Koordination geeignet? Die Lösung läge wohl darin, die Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten zu stärken und weiter in Richtung einer europäischen Regierung auszubauen. Eine solche Vertiefung der Integration wird in absehbarer Zeit wohl kaum in allen 27 Mitgliedstaaten durchsetzbar sein, sodass alternative Strategien entwickelt werden müssen. Infrage kommt eine Zweiteilung der Union in die Mitgliedstaaten der Eurozone, die sich für eine enge Kooperation entscheiden, und die anderen Mitgliedstaaten, die weiter am Binnenmarkt teilnehmen, aber keinen Einfluss auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik nehmen können. Hierfür sollten auf jeden Fall Modelle einer gestuften Integration entwickelt werden.