Das Projekt zielt auf die vollständige Erschließung der den im Zeitraum erschienenen deutschen Lesebüchern zu entnehmenden Diskurse über den Islam. Zu diesem Zweck sieht es eine Digitalisierung der im Georg-Eckert-Institut Braunschweig gesammelten Lehrwerke aus diesem Zeitraum vor, um sie im Volltext verfügbar zu machen. Die bisher bestehende Forschungslücke bezüglich der Methodik in-nerhalb der germanistischen Lesebuchforschung muss dabei in einem ersten Schritt behoben werden. Damit ist das Projekt in drei Schritte zu unterteilen:a) Theoretische Fundierung: Konzeption einer genuin germanistischen Methodik der Lesebuchfor-schung. Die innerhalb der internationalen Schulbuchforschung dominierende Methodik der themati-schen Diskursanalyse ist nicht übertragbar auf den Sonderfall des deutschen Lesebuchs als einer aus der Tradition der Chrestomathie hervorgehenden, nach verschiedenen Ordnungsprinzipien geglieder-ten Textsammlung. Das Projekt entwickelt dem entsprechend eine Methode, die an Kategorien der germanistischen Textanalyse in Verbindung mit kultursemiotischer Intertextualitätstheorie orientiert ist und ihrem Gegenstand damit entspricht. b) Digitale Erschließung: Digitalisierung der deutschen Lesebücher der Sammlung des Georg-Eckert-Instituts aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs 1871 bis 1918 und ihre Veröffentlichung im Volltext.c) Vollständige Erschließung der Islam-Darstellungen im Deutschen Lesebuch. Das Projekt dokumen-tiert die Tauglichkeit der entwickelten Methode am Beispielfall der Islamdiskurse und beantwortet die Leitfrage: Wie wurden der Islam und die Muslime im Untersuchungszeitraum im deutschen Lesebuch dargestellt? Damit leistet das Projekt einen Beitrag zur Phänomenologie des 'muslimischen Fremden' im Kaiserreich und kann nachweisen, in welchen historischen Konstellationen der gegenwärtige Dis-kurs über den Islam zu verorten ist. Letzteres erscheint vor dem Hintergrund der in der Gegenwart zunehmenden interkulturellen und interreligiösen Begegnungen von entscheidender Bedeutung, kann doch nachgewiesen werden, ob Islambilder der Gegenwart noch als Produkte historischer schulischer Vermittlungsprozesse angesehen werden können. Ihr Konstruktcharakter könnte sich so erweisen.
Projektlaufzeit
01.04.2018 - 30.06.2022
Verbund/Partnerorganisation
Leibniz-Institut für Bildungsmedien - Georg-Eckert-Institut (GEI)
Ergebniszusammenfassung
Hinsichtlich des methodischen Vorgehens und der Übertragbarkeit der Methoden von auch quantisierbaren Erschließungen umfangreicher bildungsgeschichtlicher Korpora können folgende Items Relevanz beanspruchen: Vordefinierte Suchzeichenfolgen: Die in Abstimmung mit zeitgenössischen Wörterbüchern definierten Suchzeichenfolgen lieferten brauchbare und vollständige Ergebnisse. Das Projekt sah eine Verifizierung der durch Suchbegriffe determinierten Ergebnisse mit solchen durch traditionelle Methoden (vollständige Lektüre, Inhaltsanalyse) gewonnenen vor, die belegte, dass beide Methoden zu vergleichbaren und gleichwertigen Eregebnissen führten. Qualitative Methoden: Germanistische Schulbuchanalyse sollte vom Theorem der doppelten Autorenschaft (AutorIn der Quelle und HerausgeberIn des Schulbuchs) ausgehen und diese Wechselbeziehung analytisch fruchtbar machen, indem vor allem die (teils umfangreichen) Bearbeitungen des Quellentextes durch die/den HerausgeberIn im Fokus der Analyse stehen. Narrative und Diskurse: Das Projekt lieferte auch durch Auszählungen von Texthäufigkeiten und -verteilungen in verschiedenen Perioden der Bildungsgeschichte des Kaiserreichs das Ergebnis, dass Diskurse und Narrative im Schulbuch eine dicht verflochtene Wechselbeziehung eingehen. Das Projekt konnte als ein Hauptergebnis ein klar identifizierbares Narrativ der historischen und legendenhaften Begegnung des Islam mit dem „Abendland“ beschreiben, das über die „Stationen“ Rolandslied, Kreuzzüge (Barbarossa), Türkenkriege und Orientreise Wilhelms II in die Gegenwart des Kaiserreichs geführt wird. Es ergab sich daraus und aus weiteren, „dichten“ Analysen eine Matrix der diskursiven Zuschreibungen, die Beschreibungen wie die des orientalischen, bellizistischen und fatalistischen Islam, des monströsen islamischen Kriegers oder des „falschen Propheten“ als äußerst stabil und omnipräsent kennzeichnet. Die Wende vom christlich zum national geprägten Lesebuch zeigt sich so am Beispiel der Islamdarstellung als ein durchgängiges Element in nahezu allen Schulformen, insbesondere in der Volksschule. Hier fehlen offensichtlich Bücher, die auch mit komplexen und abwägenden Texten wie im höheren Schulwesen den Islam in seinem Geltungsanspruch als Weltreligion respektieren. Die nationalstaatliche Politisierung im Hinblick auf die Islamdarstellung wird durchgängig in allen Büchern vor allem an der Gerichtetheit des islambezogenen Narrativs deutlich, das schließlich Wilhelm I. mit Barbarossa identifiziert und den SchülerInnen die Orientreise als Vollendung der Kreuzzüge präsentiert. Insofern die Analysen an kaum einer Stelle wesentliche Differenzen zwischen Schulformen, Konfessionsbindung oder Geschlechterbezug erkannten, scheint im Hinblick auf die Islamdarstellung (mit Ausnahmen in höheren Klassen des höheren Schulwesens angesichts teilweise auch abwägender Texte beispielsweise religionskomparatistischer oder orientwissenschaftlicher Provenienz) der Grundtenor recht einheitlich. Erstmals konnte die vorliegende Untersuchung also dokumentieren, wie sich im Vermittlungsmedium Lesebuch in einem klar umrissenen und für die nationale Vorstellungsbildung zentralen Zeitraum die Auseinandersetzung mit dem Islam abbildet. Es ist also von einer starken und möglicherweise über Generationen andauernden Prägung durch die hier ermittelten Islambilder auszugehen. Anschlussforschung könnte im Vergleich zu nachfolgenden Zeitabschnitten deutscher (Bildungs-)Geschichte die transgenerationelle Persistenz solcher Vorstellungen überprüfen. Nur auf diesem Wege kann eruiert werden, worin traditionsbedingte Probleme und Lösungen interkultureller und -religiöser Begegnungen liegen.