Lernen vom Bildschirm. Bedarf echte Bildung noch einer Begegnung?
- 13.11.2020
- Für die Universitäten hat die Corona-Pandemie selbstverständlich viele negative Folgen. Gleichzeitig muss aber eingestanden werden, dass die aktuelle Situation viele Lehrende dazu veranlasst hat, sich intensiver als bisher mit den Möglichkeiten des digitalen Unterrichtens auseinanderzusetzen. Gerade in Fächern, die bislang intensiv auf Präsenzlehre gesetzt haben, lässt sich das beobachten. Damit hat die nun notwendige Online-Lehre dazu geführt, dass nicht nur die Möglichkeiten, sondern ebenso die Grenzen des digitalen Unterrichts deutlich werden. Digitale Lehre kann überall dort eine gute Ergänzung zum Unterricht im Seminarraum oder Hörsaal sein, wo es primär darum geht, konkretes Wissen darzustellen. Fakten über den Ablauf beispielsweise eines historischen Ereignisses oder über gesellschaftliche Zusammenhänge müssen nicht notwendig ‚in Begegnung‘ vermittelt werden. Das mussten sie übrigens auch bisher nicht. Das Medium Buch ist schon seit mehr als 500 Jahren eine gute Alternative zur Vorlesung, die vor allem Wissen vermittelt. Bildungsinstitutionen leisten aber weit mehr als das. Unstrittig dürfte sein, dass bestimmte Fertigkeiten weiterhin nur in der Realität erlernt werden können. Natürlich gibt es Fertigkeiten, die zum Teil am Bildschirm erprobt werden können. Man denke bloß an Flugsimulatoren. Aber niemand von uns wird sich in einigen Jahren einem Zahnarzt anvertrauen, der freudestrahlend erklärt, er habe während der Pandemie studiert und bisher nur am Bildschirm gebohrt. Das Lernen am Bildschirm hat seine Grenzen, wenn es um die Vermittlung von Fertigkeiten geht. Universitäten und Schulen vermitteln jedoch nicht nur Wissen und Fertigkeiten, sondern etwas, was im Deutschen ‚Bildung‘ genannt wird. Für große Theoretiker der Bildung wie Johann Gottfried Herder, Friedrich Schiller oder Wilhelm von Humboldt war es unstrittig, dass ‚Bildung‘ an die Voraussetzung geknüpft ist, dass Menschen in Räumen zusammenkommen, in denen ein möglichst offener und liberaler, aber auch kontroverser Umgang miteinander gepflegt wird. Wie sehr das schon den Zeitgenossen vor Augen stand, zeigt ein Zitat aus dem Nachruf des Aufklärers Friedrich Nicolai auf den großen Osnabrücker Staatsmann und Schriftsteller Justus Möser: „Möser wusste übrigens damals schon, dass man auf Universitäten, wenn man nur da hört, eigentlich nicht studiert.“ Bereits Möser sei, so Nicolai, bewusst gewesen, dass das Studium mehr ist als der Besuch von Vorlesungen. Bildung und Wissenschaft sind derart betrachtet etwas, was als ‚Lebensform‘ oder gar als ‚Lebensstil‘ bezeichnet wird: Bildung kann nicht auf die Vermittlung von Wissen oder Fertigkeiten reduziert werden, sondern ist entschieden von einem Miteinander geprägt. Deswegen gibt es an Universitäten zahlreiche Räume, die zu solchen Diskussionen einladen: an erster Stelle die Seminarräume und Orte für Arbeitsgruppen in der Bibliothek, dann aber auch die Mensa oder Aufenthaltsräume, die zum Gespräch nach den Seminaren einladen. ‚Bildung‘ stellt sich also nicht nur ein, indem Wissen und Fertigkeiten erlernt werden. ‚Bildung‘ ist ein Erlebnis, das durch den offenen und freien Dialog im Seminar, beim Treffen von Arbeitsgruppen oder auch beim Bier nach einem anregenden Vortrag entsteht. ‚Bildung‘ im Sinne Humboldts ist an Präsenzerfahrungen gebunden. Und zumindest bisher gibt es kein digitales Tool, das diese Erfahrung auch nur nachahmen, geschweige denn ersetzen kann.